STANDARD: Herr Minister, anders als bei Slavko Ninić hat es bei Ihnen mit der Musikkarriere nicht geklappt. Sie wollten Sängerknabe werden und wurden Minister.

Moser: Ich war ja Nachzügler, und als ich sechs Jahre alt war, habe ich meiner Mutter eröffnet, ich möchte Sängerknabe werden, und sie hat gesagt: Bitte bleib doch da. Mit 14 bin ich dann nach Wiener Neustadt gegangen, ans Militärgymnasium. Ich wollte also ein bisschen mehr Freiraum haben.

Nur bei Slavko Ninić hat es mit der Musikerkarriere geklappt, Josef Moser schlug einen anderen Weg ein.
hendrich

STANDARD: Sängerknabeninternat und Militär als Freiräume?

Moser: Ja, die Mutter hat mich mit ihrer Liebe überschüttet, das war mir manchmal zu viel, aus dieser Umarmung wollte ich raus.

Ninić: Meine Mutter wollte, dass ich Musiker werde, der Vater, dass ich Richter werde, ich wollte weder noch und hab Soziologie studiert. Dann hat sich herausgestellt, dass ich Musiker geworden bin. Und mit Gericht hab ich auch zu tun, als Gerichtsdolmetscher. Im Musikland Österreich kann man als Musiker ja nicht leben, man braucht immer was Zweites.

STANDARD: Herr Minister, wie oft waren Sie schon vor Gericht?

Moser: Während des Studiums hab ich mich oft in Verhandlungen gesetzt. Da waren Leute, die im Winter Fenster eingeschlagen haben und zu so und so viel Haft verurteilt worden sind, und sie haben gesagt: "Frau Rat, geht ein bisserl mehr? Weil im Februar ist’s noch kalt, kann ich wenigstens bis März drinbleiben?" Das waren Obdachlose, die haben gewusst, wo sie eine Kleinigkeit nehmen müssen, damit sie genau über den Winter kommen.

STANDARD: Glauben Sie, dass es das heute noch immer gibt?

Moser: Nein.

STANDARD: Warum nicht?

Ninić: Es gibt vielleicht mehr Initiativen. Obdachlosenzeitschriften, Wärmestuben.

STANDARD: Herr Ninić, welches Bild von der Justiz haben Sie nach so vielen Prozessen gewonnen?

Ninić: Es wird viel geschimpft über die Justiz. Zu Unrecht, finde ich. Ich habe gesehen, dass die Richter sich total professionell bemühen, jeden Fall unparteiisch zu behandeln. Oft habe ich mir bei Urteilen gedacht: Um Gottes Willen, das ist nicht gerecht. Und dann, bei der Urteilsbegründung, musste ich meine Meinung ändern.

STANDARD: Gab es Fälle, die Ihnen im Gedächtnis geblieben sind?

Ninić: Einer hat auf der Mariahilfer Straße zwei Jeans gestohlen und hat fünf Jahre Gefängnis gekriegt, als Wiederholungstäter. Das war ziemlich hart.

Moser verspricht Ninić, dass man sich um Probleme bei Dolmetschern kümmern werde.
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STANDARD: Werden Migranten vor Gericht härter angefasst?

Ninić: Ich kann das nicht bestätigen. Das war ein Beispiel, aber üblich ist das eigentlich nicht.

STANDARD: Wie hat sich der Alltag des Dolmetschens verändert?

Ninić: Zum Schlechteren. Die Honorare sind zuerst 20 Jahre nicht angehoben und vor vier Jahren sogar gekürzt worden. Bei Einvernahmen hat man früher 15 Euro pro Seite bekommen, heute ist es die Hälfte – und es ist gedeckelt mit 20 Euro. Das heißt: Wenn ein Protokoll 20 Seiten hat, kriegst du trotzdem nur 20 Euro. Die Polizei bekommt keine Dolmetscher mehr, da hilft die serbische Bedienerin aus. Und dann geht’s vor Gericht, der Richter liest das vor, und der Angeklagte antwortet: Das habe ich nicht gesagt. Und der Richter sagt: Aber Sie haben das doch unterschrieben! Und er sagt: Aber so habe ich es nicht gesagt.

Moser: Das ist definitiv ein Problem, um das wir uns kümmern müssen. Ich bin im Gespräch mit dem Dolmetscherverband.

STANDARD: Gibt es bei uns eine Willkommenskultur?

Moser: Wenn die Zuwanderung kontrolliert passiert und man weiß, man wird nicht überflutet, dann geht es. Wenn die Menschen das Gefühl haben, sie werden nicht geschützt, dann haben sie Angst vor Fremden.

Ninić: Ich würde sagen, es hängt davon ab, woher die Leute kommen. Ich glaube, bei der türkischen Bevölkerung ist die Integrationswilligkeit nicht so hoch wie bei Kroaten und Serben. Es gibt Leute, die tun so, als wären sie in Istanbul, nicht in Wien. Das finde ich deppert. Es ist aber auch so, dass niemand damit gerechnet hat, dass sie dableiben. Erst später hat man erkannt: Die fahren nicht zurück, die bleiben hier, also soll man sie integrieren. Und es ist gut gelungen in Österreich, es gibt in Wien keine Ghettos wie in Paris.

STANDARD: Wie integrationswillig sind die Österreicher?

Ninić: Die eine Regierung ist migrantenfreundlicher als die andere, aber im Grunde wissen alle, die Leute gehören integriert. Es müsste aber mehr passieren als früher. Mein Eindruck ist: Es passiert weniger.

Moser: Es passiert viel: am Arbeitsmarkt, bei den Deutschklassen, Bildungspflicht statt Schulpflicht.

Ninić: Ich sehe, dass die Lehrer diese Deutschklassen total ablehnen. Ich schätze die Lehrerschaft sehr. Die haben die Hauptlast der Integration getragen und wurden im Stich gelassen. Es wäre wichtig, dass man auf sie hört.

Moser: Wenn die Kinder dem Unterricht sprachlich nicht folgen können, ist das ein Problem. Wenn sie in der Schule nicht gefördert werden, verlieren sie den Anschluss und ziehen sich zurück. Darum sind die Deutschklassen richtig.

STANDARD: Herr Ninić, haben Sie Feindseligkeit wahrgenommen?

Ninić: Ich glaube, dass es früher in Wien viel giftiger war. Da hat es geheißen: Der Tschusch ist einer, der sich nicht wäscht, der faul ist. Ich höre das weniger als früher. Vielleicht täusche ich mich.

STANDARD: Man hört von Übergriffen auf Kopftuch tragende Frauen.

Ninić: Beschimpft werden soll niemand. Man muss jeden Menschen achten, ob er Kopftuch trägt oder in Shorts herumläuft – nur nackert soll er nicht sein. Viele setzen ja den islamistischen Terror mit dem Islam gleich, was ein Fehler ist. Den Terror gibt es aber und das Streben nach politischer Macht für den Islam. Wenn die an der Macht sind, gibt es keine Toleranz mehr. Man muss sich etwas überlegen. Ich würde das Kopftuchtragen bei Kindern an Schulen absolut verbieten. Für mich ist das ein Ausdruck der Unterdrückung der Frauen. Ich würde es sogar bei erwachsenen Frauen verbieten.

Ninić würde am liebsten Kopftuchtragen generell verbieten, Moser hat mit Kopftüchern "nicht so ein Problem".
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STANDARD: Was sagen Sie dazu, Herr Minister?

Moser: Jede Parallelgesellschaft ist abzulehnen. Ich persönlich habe mit Kopftüchern nicht so ein Problem, solange sie nicht als Symbol der Unterdrückung von Frauen dienen. Die alten Bäuerinnen im Burgenland, die am Traktor sitzen, haben auch Kopftücher auf.

Ninić: Etwas würde mich noch interessieren: Wir hatten einen Justizminister in den 1970er-Jahren, der sich eine Gesellschaft ohne Gefängnisse vorstellen konnte, Christian Broda. Glauben Sie, ist das irgendwann erreichbar?

Moser: Man muss schauen, wie man Täter resozialisiert, aber auch, dass die Gesellschaft sicher ist. Das Problem ist: Lässt man Tausende frei und einer davon wird rückfällig, wird das zum Anlass genommen, um zu sagen: nicht mehr freilassen. Aber natürlich braucht man Gefängnisse, wenn ein Gefährdungspotenzial da ist. Ein Gefängnis soll auch Hilfestellung dafür sein, dass jemand wieder integriert wird.

STANDARD: Herr Ninić, glauben Sie an die gefängnislose Gesellschaft?

Ninić: Es gibt Gesellschaftsmo delle, dass man möglichst wenig straft und in einem richtigen Frieden lebt. Auch mit möglichst wenigen Stunden Arbeit am Tag – nicht so wie jetzt, dass man es auf zwölf Stunden ausdehnt, sondern dass drei Stunden reichen. Damit das Reich der Freiheit immer größer wird und das Reich des Zwanges immer kleiner. Ich weiß nicht, ob das einmal möglich wird, aber träumen darf man schon. Es ist ja so: Mit dem technologischen Fortschritt und der Steigerung der Produktivität könnten unsere Bedürfnisse schon gedeckt werden. Wären nicht die Konzerne, die in ihrer Profitgier so unersättlich sind beim Horten von Milliarden auf irgendwelchen Inseln, dann wäre es vielleicht möglich, nur drei Stunden zu arbeiten.

Moser: In Österreich liegen die Sozialstandards weit über dem EU-Schnitt. Will man das erhalten, muss man schauen, dass die Wirtschaft wettbewerbsfähig ist. So werden Jobs geschaffen, können wir die Sozialstandards halten.

STANDARD: Als Präsident des Rechnungshofs hatten Sie dazu ja viele Vorschläge. Der Zwölfstundentag war aber nicht dabei.

Moser: Man muss immer den Ausgleich zwischen Wirtschaft und Arbeitnehmer finden. Jeder hat erlebt, wenn du einen Handwerker nimmst, und er macht seine Montage, und nach zehn Stunden sagt er: In zwei Stunden wäre ich fertig, aber ich muss jetzt zusammenpacken – dann bin ich nicht mehr wettbewerbsfähig. Es gibt also auch bei den Arbeitnehmern das Bedürfnis, länger zu arbeiten.

Ninić: Das Problem ist: Der einzelne Arbeitnehmer kann sich nicht wehren, wenn er es nicht will und der Chef es verlangt. Er sitzt ja immer am kürzeren Ast und kann gekündigt werden. (Maria Sterkl, 21.7.2018)