Diesseitigkeit: Noch im zweiten Jahr seines irdischen Wirkens ist dieser neue, von Tobias Moretti sachkundig gemimte Jedermann nicht zu beneiden. Anstatt ein komfortables Landhaus für sich und seine Buhlin (Stefanie Reinsperger) zu errichten, will er ausgerechnet den Salzburger Dom in eine Stätte der Daseinslust und Ausschweifung umwidmen. Dieser Anschlag kennzeichnet sehr gut die unfromme Absicht von Michael Sturmingers Aneignung des Stoffes. Des reichen Mannes Todesangst erschließt sich für uns Heutige – trotz aller bigotten Beteuerungen – nur noch vor dem Sinnhorizont absoluter Diesseitigkeit. Sein letztes Stündchen geht uns insofern alle an, als wir nicht unbedingt auf Erlösung hoffen dürfen.

"Jedermann" und seine "Buhlschaft": Tobias Moretti (li.) und Stefanie Reinsperger.
Foto: APA/BARBARA GINDL

Ekel: Moretti wankt bemerkenswert unfroh über die Stiegen vor dem Domportal. Die waren bei der sonntäglichen Premiere noc h nicht einmal die echten, da Petrus Sturzbäche weinte, die ganze Unternehmung daher in das Große Festspielhaus übersiedeln musste. Man kann nicht sagen, dass Hugo von Hofmannsthals kluge Bemerkungen über den Kreisverkehr des Geldes in Jedermann (schwarzer Anzug) einen besonders beredten Fürsprecher fänden. Moretti knallt dem armen Nachbarn (Roland Renner) einfach den Koffer mit dem Zaster vor die Brust. Dieser Jedermann besitzt von Anfang an etwas Zähnefletschendes, etwas, das ans Eingemachte geht. Kein Genuss der eigenen Virilität trübt ihm die schlechte Stimmung. Stattdessen erklärt ein Kapitalist, dessen Physis ins Stocken gerät, der Heuchelei von Mildtätigkeit auch noch den Krieg.

Familienfreuden: Wiederum blass bleibt Reinspergers Buhlschaft. Star dieses Bußgangs ist unbestritten Jedermanns Mutter, die mit der spröden Anmut, wie nur Edith Clever sie besitzt, Hofmannsthals Knittelverse spricht: als ob von Kleist sie wären. Zum Dank tanzt der ungeratene Sohn, der partout nicht Einkehr halten will, mit der köstlichen Mama ein paar Takte Todestango.

Ein stark tätowierter "Tod": Peter Lohmeyer (li.) und Moretti als "Jedermann".
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Buñuel: Der Moment von Jedermanns Anfechtung durch den stark tätowierten Tod (Peter Lohmeyer) ist atembenehmend gut (und halsbrecherisch gefährlich) inszeniert. Das Proszenium kippt behände nach vorne. Das Porzellan der Tischgesellschaft macht sich selbstständig, allmählich verabschiedet sich das gesamte Mobiliar in den Orchestergraben. Der Teufel legt Hand an und hilft als Partyschreck tüchtig mit. Auf seinen Pumps keine Kleinigkeit. Ein furioser Rutsch ins Verderben, eines Buñuel würdig.

Läuterungsfaktor: Jedermanns Abschiedstour vor seiner finalen Verklärung vergeht wie im Flug. Die Werke (Mavie Hörbiger) liegen wegen akuter Vernachlässigung moribund im Spitalsbett. Man kann es dem von Höllenqualen bedrohten Mann nachfühlen, dass jetzt guter Rat teuer ist. Die Werke röcheln zum Gotterbarmen. Der Teufel (Hanno Koffler) mit seinem schmucken, fluoreszierenden Schwanz hat schon recht: Jedermanns Bekehrung im Eiltempo riecht zum Himmel. Aber der dürfte ja auch – nach Auffassung dieser wunderbar prosaischen Aufführung – einigermaßen leer sein.

"Jedermann" und die "Werke" (Mavie Hörbiger, li.).
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Reformwille: Michael Sturmingers Jedermann-Überarbeitung wirkt noch in ihrem zweiten Jahr nicht ganz fertiggeschraubt. Die Idee, die Äußerungen von Gott dem Herrn als monotheistisches Schriftband mitlaufen zu lassen, ist immerhin formidabel. Sie versinnbildlicht das Dogma des unsichtbaren Schöpfers und überlagert die Spur seiner Offenbarungsworte mit Jedermanns EKG. Famos auch Johannes Silberschneider als Glaube: ein spröder Gottesgelehrter mit unübersehbar jüdischen Wurzeln. Wolfgang Mitterers neu designte Musik zieht synthetische Schlieren über das holzschnittartige Geschehen. Grelle Einwürfe – vor allem der Bläser – bereiten einen Ohrenschmaus.

Weihrauchaufkommen: Der Vorzug der von Renate Martin und Andreas Donhauser heuer noch verschwenderischer ausgestatteten Produktion beschreibt zugleich auch ihr Manko (und muss keines sein). Hofmannsthals Annahme des katholischen Gnadenerweises klingt weniger glaubhaft denn je. Nie war mehr Ehre Gott in der Höhe der Sitzplatzpreise. Sturminger und sein Team halten sich jeden Anflug von Frömmelei mit säkularem Pflichteifer vom Leibe. Hierin gleichen sie manchmal Zoowärtern, die Tiere – gleich welcher Gattung – in Wahrheit nicht ausstehen können. Den vielen zentralalpin gekleideten Besuchern waren derlei potenzielle Gewissenskonflikte von Herzen egal. Sie jubelten aufrichtig. (Ronald Pohl, 23.7.2018)