In kurzen, genauen Prosaskizzen, in schlaglichtartigen Szenen erzählt Hackl das Ende des Ersten Weltkriegs und seine Folgen, die vielen Flüchtlingsschicksale wie das der Familie von Regina Steinig.

Foto: Maurice Haas / Diogenes

Erich Hackl, "Am Seil. Eine Heldengeschichte". € 20,60 / 128 Seiten. Diogenes-Verlag, Zürich 2018

Cover: Diogenes

Reinhold ist der Held meiner Geschichte. Nur seinetwegen erzähle ich sie (Lucia Heilmann)". Dieses Zitat hat der Autor seiner Erzählung als Motto vorangestellt. Deren Mittelpunkt bildet die Geschichte der Rettung von Lucia Heilmann und ihrer Mutter Regina Steinig in der Zeit der nationalsozialistischen Judenverfolgung bildet. Reinhold Duschka (1900-1993) hatte in der NS-Zeit an die vier Jahre lang in seiner Werkstatt im Wiener Werkstättenhof, dem repräsentativen Industriebau zwischen Linker Wienzeile, Hornbostelgasse und Mollardgasse, die beiden Jüdinnen versteckt und sie so vor Deportation und Ermordung gerettet.

Hackls Heldengeschichte verschiebt unmerklich die Gewichte, indem er die Mutter und das Kind zu mithandelnden, mitdenkenden Subjekten bei ihrer eigenen Rettung macht. Sein Erzählen mischt sich in einem nachdenklich fragenden Erzähldialog in Lucia Heilmans Geschichte, und es verschafft damit dem Vorstellungsvermögen einen größeren Spielraum. Die vielen Einschübe wie "stelle ich mir vor", "anzunehmen, dass", "gut möglich", "ausgedacht", "erfunden" erweitern die Bestimmtheit der Heldengeschichte durch ein Möglichkeitsdenken, das etwas Allgemeineres, Gesellschaftliches aufscheinen lässt. Nicht nur, dass die Mutter und das Kind dadurch in der Rettungsgeschichte einen größeren Stellenwert erhalten, auch ihr Zusammenarbeiten bei der Herstellung der kunsthandwerklichen Metallgegenstände erhält dadurch einen weiter reichenden Aspekt.

Die rettende Vernunft

Im gemeinsamen Arbeiten sah Duschka eine Möglichkeit, dass sich die in der Werkstatt versteckt lebenden Frauen von der selbstzerstörerischen Angst ablenken, anzunehmen ist, dass auch er es befreiend empfand, miteinander zu arbeiten. Durch die gesteigerte Produktion war es ihm außerdem möglich, sich zusätzlich Geld zu verschaffen, um die beiden Frauen versorgen zu können. Aber in der Erzählung der gemeinschaftlichen Arbeit schwingt unausgesprochen noch etwas Allgemeineres mit: dass hier, in der Verborgenheit einer Werkstatt im "Werkstättenhof", nach der Zerstörung des Roten Wien die Idee einer sozialen Utopie der Arbeit und des Lernens fortlebte. Lucia entging es nicht, lässt Hackl eine Passage über Reinhold Duschka beginnen, dass er "nicht auf seine Autorität [pochte]. Er gab Ratschläge, keine Befehle. Obwohl er sich die wirklich schweren Arbeiten vorbehielt, ermöglichte er es ihnen, am gesamten Fertigungsprozess teilzuhaben."

Das andere, noch immer aktuelle Heldentum von Reinhold Duschka ist auch darin zu sehen, wie er in einer Zeit der Überwachung und Denunziation, als dann auch noch die Zuteilung von Lebensmitteln überwacht und reglementiert wurde, mit größtmöglicher strategischer Planung zwei Menschen mit dem Notwendigsten versorgte. Instrumentelle Vernunft kann sozial und menschenwürdig werden, wenn sie in der Not weiterhilft und dem Leben dient. Dass Duschka den "Werkstättenhof" wählte, war auch insofern eine überlegte Wahl, als dort ein schwer zu kontrollierendes ständiges Kommen und Gehen herrschte. Auch Regina Steinig hatte das sofort erkannt.

"Wind in den Haaren ..."

Aber, und auch das nimmt uns für den umsichtig planenden "Helden der Geschichte" ein, dass er sein rettendes Kalkül fallenließ, als Lucia unbedingt hinauswollte ins Freie. Er ging auf ihren unbändigen Wunsch ein und plante den gefährlichen Ausflug, den sie um ihr Leben gern machen wollte. Dieser Ausflug, einer von mehreren, wird im Buch erzählt wie ein großes Ereignis. Als würde einer Blinden für wenige Stunden das Sehvermögen geschenkt, als wäre eine Gefangene plötzlich ihre Fesseln los: Blinzeln im Sonnenlicht, der Weg durch das bedrohliche nationalsozialistische Wien, hinaus aus der Stadt zu den Weinbergen: Und dort fuhr sie aus den Schuhen, "streifte die Strümpfe ab und stürmte los" und rannte und rannte immer wieder auf einem Pfad neben der Höhenstraße oberhalb von Grinzing hin und her. Reinhold wartete auf einer Bank. Gemeinsam blicken sie dann auf die Stadtlandschaft, und er erklärt ihr die Gebäude unten in der alten Kulturlandschaft – ein Lob Österreichs (Grillparzer), in der größten Gefahr und Bedrängtheit von einem verfolgten jüdischen Mädchen erlebt. Auf dem Rückweg war sie besorgt, dass sie "die kostbare Zeit im Freien durch Unachtsamkeit verderben könnte. Wieder hätte sie alles, was um sie war, am liebsten aufgesogen oder eingewickelt, um möglichst lang davon zehren zu können."

Die Handlung der Heldengeschichte hat ihr Zentrum in den vier Jahren der versteckten Existenz in Duschkas Werkstatt, aber sie ist mit anderen Lebensgeschichten verflochten, und sie umfasst beinah das ganze 20. Jahrhundert. In kurzen, genauen Prosaskizzen, in schlaglichtartigen Szenen, erzählt Hackl das Ende des Ersten Weltkriegs und seine Folgen: die vielen Flüchtlingsschicksale, wie das der Familie von Regina Steinig bei der Vertreibung aus den früheren Ländern der Habsburgermonarchie, das Aufatmen im Roten Wien, das entstehende Geflecht von Freundschaften und Verwandtschaftsbeziehungen und deren Zerstörung durch den Nationalsozialismus.

So ist die "Heldengeschichte" nicht zuletzt ein Familienroman, erzählt mit dem Blick auf die auseinandergerissenen Familienbande und verwandtschaftlichen Beziehungen.

Ruth Klüger, die ungefähr in der Zeit wie Lucia Heilmann geboren wurde und wie diese mit ihrer Mutter den Holocaust überlebte, hat in ihrem Buch Frauen lesen anders bei Erich Hackl sofort diesen entscheidenden Punkt seiner Erzählungen erkannt: die Gewalt, mit der das Zeitgeschehen in das Familienleben einbricht. Besonders an den weiblichen Menschen werde "die Perversität der Staatsgewalt deutlich, die das Band zwischen Liebespaaren und zwischen Eltern und Kindern, besonders zwischen Müttern und Kindern stört und zerstört". Klüger bemerkt, dass besonders die Frauen bei Hackl "niemals willenlos" hinnehmen, "was ihnen passiert. Sie denken nach, sie wehren sich, sind politische Menschen, wie Männer auch, und meistern die Kunst des Überlebens" (Die Wahrheit des Chronisten. Laudatio auf Erich Hackl, 1996).

Lucia erinnert sich im Versteck an ihren Schulaufsatz mit dem Thema "Sich zu helfen wissen", in welchem sie einst, als es für sie noch eine Schule gab, ihren Stolz der Selbstbehauptung am Märchen vom Schneider und der Ziege erklärte. So steht alles, noch die kleinsten Details, miteinander in Beziehung, und was 'nur' den Tatsachen zu folgen scheint, erhält in der Erzählung thematische Bedeutung, die früheren Sehnsüchte und Wünsche leben verwandelt in anderer Gestalt und in einem anderen sprachlichen Ton neu auf, eine vor "Leidenschaft leuchtende Sprache", wie es im Klappentext des Buchs heißt.

Nicht zuletzt wird auch der Titel der Erzählung in diesem alles verwandelnden und verbindenden Erzählen vieldeutig: Eine Heldengeschichte, deren Held seine Tat nie als eine Heldengeschichte sah. Am Seil gehen und auf seine Seilschaft zu achten, das war für den passionierten Bergsteiger etwas Selbstverständliches. Und trotzdem bleibt es ein Rätsel, dass Reinhold Duschka auch nach 1945 nicht über die schwierige, selbstlose Rettung der beiden bedrohten jüdischen Frauen sprach, auch nicht mit seinen nächsten Verwandten. (Hans Höller, 1.8.2018)