Das Lehmbautendorf in Nordindien: "Heute ist Sunderpur ein schönes Dorf, in dem die Menschen ein neues Zuhause gfunden haben, und von der einstigen Vergangenheit ist kaum noch was zu spüren." Kaum.

Foto: Kurt Hoerbst

Überdachter Vorplatz: Sogar bei Regen können alle draußen sitzen bleiben.

Foto: Kurt Hoerbst

Die Schlafzimmer sind klein und bieten Platz für ein Bett und einen Schrank.

Foto: Kurt Hoerbst

Vor seinem Haus stehen zwei weiße Ziegen, angebunden an einen Holzpflock, der vor der Lehmmauer in die Erde hineingerammt wurde, und meckern in die brütend heiße Stille hinein. Daneben liegt ein kleines Ziegenkitz auf dem Boden, vielleicht das Baby der beiden, kühlt sein flaumig weiches Bäuchlein auf dem schattigen, zur Mittagszeit immer noch angenehm kühlen Betonboden auf der Veranda. Kinder rennen über den Hof, ein abgestelltes Fahrrad in der Platzmitte, eine Mutter mit Kind und Wäschetrog unterm Arm. Ein ganz normales Bild nordindischen Wohnens.

"Diese schattigen Vorplätze sind wirklich eine tolle Sache", sagt Rajendra Paswan. "Unsere Häuser sind in der Regel sehr ökonomisch geplant und daher auch sehr klein. Mit dem wenigen Geld, das wir uns zusammenklauben müssen, wäre ich niemals auf die Idee gekommen, eine so verschwenderische Veranda zu errichten, aber tatsächlich ist dieser Ort sehr wertvoll."

Rajendra deutet auf das kleine Tier am Boden, auf seine drei Kinder, die auf der Schwelle sitzen, auf seine Schwiegermutter, die auf der Pritsche hockt und das Gemüse fürs Abendessen putzt. "Den ganzen Tag über haben wir auf diese Weise intensiven Kontakt zu unseren Nachbarn. Sogar bei Regen können wir draußen sitzen bleiben. Das hätte ich mir niemals träumen lassen."

Eintausend Bewohner

Rajendra ist an Lepra erkrankt. Seine Finger sind verkrüppelt und kaum noch funktionsfähig. Einer der beiden Füße ist gesund, der andere sieht aus wie ein knorriger Baumstumpf, eingewickelt in eine Mullbinde, um ihn vor Verletzungen und Infektionen zu schützen.

Der 42-Jährige ist einer von rund eintausend Bewohnern, die in der 1981 errichteten Leprakolonie Sunderpur in Raxaul im äußersten Nordindien, nur wenige Schritte von der nepalesischen Grenze entfernt, ein Zuhause gefunden haben. Im Norden der Siedlung fließt der Grenzfluss Sirsiya vorbei, eine zähe Brühe aus Schlamm und Müll, immer wieder steigen Blubberblasen auf und platzen: Plopp.

Der unwirtliche Ort ist kein Zufall. "Früher haben die Unberührbaren, wie die Leprakranken in Indien immer noch genannt werden, genau hier auf einer Mülldeponie gelebt", erzählt Kabita Bhattarai, die in ihrem früheren Leben an der Harvard University studiert und für die Weltbank in Washington, D.C., gearbeitet hatte, ehe sie beschloss, an der Seite von Mutter Teresa soziale Hilfsdienste in der indischen Bevölkerung zu leisten.

Die 57-Jährige lebt zeitweise selbst im Dorf und ist Finanzmanagerin der indisch-österreichischen NGO Little Flower, die sich um die Finanzierung von medizinischen Leistungen kümmert und wirtschaftlich nachhaltige Einrichtungen wie etwa Kuhstallungen und Baumwoll- und Seidenwebereien entwickelt.

No Man's Land

"Dieser Ort war früher ein No Man's Land, und die Lebensbedingungen waren hart und unhygienisch", sagt Kabita. "So wie überall an der Peripherie, an den äußersten Rändern dörflicher, städtischer Zivilisation, wo die Menschen in den Abfällen noch etwas Brauchbares finden, das sie für ein paar Rupien, vielleicht nur für ein paar Paisa verkaufen können. Doch nach und nach wurde die Deponie überbaut und ausgebaut.

Heute ist Sunderpur ein schönes Dorf, in dem die Menschen ein neues Zuhause gefunden haben, und von der einstigen Vergangenheit ist kaum noch was zu spüren." Kaum. Die Stigmatisierung der Leprakranken und ihrer Angehörigen liegt allen Anstrengungen Kabitas zum Trotz immer noch in der dicken, schwülen Sommerluft und ist nicht wegzubringen.

Um den Opfern sozialer Ausgrenzung dennoch ein möglichst angenehmes Leben zu ermöglichen, hat Little Flower vor einigen Jahren eine gewinnbringende Zusammenarbeit mit der Kunstuniversität Linz gestartet. Das Ziel dieser Kooperation war die Errichtung von Wohnhäusern für leprakranke Menschen und ihre Angehörigen sowie für die aus den umliegenden Regionen angekarrten, dringend benötigten Dorfschullehrer mit ihren Familien.

Komm nur rein!

"Komm nur rein", sagt Rajendra. Am Türstock hängt eine kleine Figur des Elefantengotts Ganesha, darüber jene der Lakschmi, der Göttin der Fülle und des Reichtums. Das Haus besteht aus einer betonierten Fundamentplatte und zwei darauf aufgebauten Geschoßen aus Stampflehm.

Die Schlafzimmer sind sehr klein und bieten Platz für ein Bett und einen Schrank. In manchen Räumen ist noch eine kleine Kommode ins Eck gezwängt, darauf ein Schminkspiegel, ein Fernseher, eine kleine Vase mit bunten Plastikblumen. Auf der Rückseite der Küche befindet sich ein kleiner, zweigeschoßiger Innenhof, in dem Wäsche gewaschen und manchmal auch das eine oder andere Huhn gehalten wird. Eine Etage höher gibt es eine kleine Veranda, auf der die gewaschene Wäsche zum Trocknen in die sengende Sonne hinausgehängt werden kann.

Anders als beim samtig weich gestalteten Lehmwohnhaus für die Dorflehrer mit seinen blau gefärbten Stoffvorhängen im Fenster, das die Studierenden der Kunstuniversität Linz ein paar Gassen weiter 2015 gebaut haben, wirken die beiden kürzlich fertiggestellten Wohnblöcke im Süden der Leprakolonie etwas strenger und ästhetisch durchkomponierter.

Durchkomponierte Architektur

Während der Massivbau aus Stampflehm errichtet und anschließend mit Lehmputz verspachtelt wurde, erscheinen die beiden platzseitigen Fassaden mit ihren unverputzten Ziegelbrüstungen, ihren Holzpaneelen und ihren streng in die Stahlkassetten eingepassten Bambusgeflechten wie eine zeitgenössische, geometrisch durchkomponierte Architektur aus der neuesten Baufibel. Balkrishna Doshi, der diesjährige Pritzker-Preisträger aus Ahmedabad – gleiches Land, andere Welt -, hätte es mit den hier gewählten, bescheidenen Mitteln nicht besser machen können.

"Lehm hat in vielen Teilen der Erde eine lange Tradition", sagt Dominik Abbrederis, "so auch hier in Indien. Doch leider gilt er heute vielerorts als Arme-Leute-Baustoff, weil die Menschen damit ein minderwertigeres Bauen und Wohnen assoziieren. Damit tun sie dem Material unrecht." Der 34-Jährige, den hier im Dorf alle nur als "unser Dominik" bezeichnen, ist Bauleiter am Architekturinstitut der Kunstuniversität Linz und hat das Projekt gemanagt und vor Ort in die Realität umgesetzt.

Lehm als Leidenschaft

Lehm ist seine Leidenschaft. "Das ist ein extrem ökologischer Baustoff, weil er im Gegensatz zu Ziegel und Beton nicht gebrannt und industriell verarbeitet werden muss und daher auch keine CO2-Emissionen mit sich bringt. Außerdem lassen sich Fehler und Schäden leicht beheben. Bei guter Pflege hält Stampflehm viele Generationen."

Leider haben sich die Vorzüge noch nicht herumgesprochen. "Ja, das ist ein wirklich wunderschönes Haus", sagt Anurag Kumar. "Ich würde sogar sagen, das ist das schönste Haus in ganz Raxaul." Der 19-jährige Student hat am Bau als Hilfskraft mitgewirkt. Seine Augen leuchten vor Begeisterung, als er davon erzählt und die umliegenden Hausfassaden begutachtet, einen Blick auf die vollbehangene Wäscheleine werfend, die der so strengen, eleganten Architektur einen angenehm bunten Klacks verleiht.

"Aber es gibt ein riesengroßes Problem ... Die meisten Menschen hier in Indien haben das Vorurteil, dass Lehmbauten schwach sind und sich im nächsten Monsun auflösen und weggeschwemmt werden. Daher wollen sie, sobald sie es sich leisten können, ein starkes, robustes Haus aus Ziegeln und Beton."

Schlechte Qualität

Die vielen Zementwerke in Südnepal und Nordindien, die entlang des Tribhuvan Highway 527D aufgefädelt sind, erfüllen keinerlei Umweltschutzauflagen und verpesten und verrußen auf kilometerweit sichtbare Weise die Luft. Hinzu kommt, dass die industriell errichteten Betonburgen gar nicht so massiv und resistent sind, wie alle behaupten. Die Material- und Verarbeitungsqualität ist so schlecht, dass die ungepflegten Häuser schon nach 20 Jahren geschoßhohe Risse aufweisen und teilweise in sich einstürzen.

Exempel dieses Verfalls stehen im ganzen Dorf herum: ein Wohnhaus, die alte Dorfschule, ein irgendwann begonnener und niemals fertiggestellter Bauernhof, den sich längst schon Zeit und Natur gekrallt und mit Schimmel und aus angewehten Flugsamen büschelweise keimenden Pflanzen überwuchert haben.

"In Österreich und Mitteleuropa gab es in den letzten zehn, fünfzehn Jahren eine sehr intensive Entwicklung, was den modernen Lehmbau betrifft, und Menschen wie Martin Rauch und Anna Heringer haben vorgezeigt, was mit diesem Baustoff alles möglich ist", sagt Abbrederis. "Davon sind wir in jenen Ländern, die bis vor kurzem eine sehr lebendige Lehmbautradition hatten und immer schon damit gearbeitet haben, weit entfernt. Mit den teuren industriellen Baustoffen ist der Lehm verschwunden."

Grundlegende Aufklärung

Eine grundlegende Architekturaufklärung – ganz gleich ob in Sachen Lehm, Ziegel oder Zement – würde gerade dieser wirtschaftlich schwachen, finanziell bedürftigen Bevölkerung wertvolle Dienste erweisen. Doch was will man schon erwarten in einem Land, in dem die Medikamente gegen Lepra von der Regierung kostenlos zur Verfügung gestellt werden und die Krankheit längst schon hätte ausgerottet werden können? Nicht einmal da funktioniert die Aufklärung, nicht einmal da erreicht die Information jene Menschen, die sie am dringlichsten benötigen.

"Ja, ich weiß", sagt Rajendra Paswan, der Mann mit dem Klumpfuß und dem kleinen Ziegenkitz auf der Veranda. Seine Schwiegermutter hat das Gemüse fertiggeschnipselt und macht sich nun ans Reiswaschen. "Mittlerweile weiß ich es, aber es ist zu spät. Die Krankheit hat mich. Jetzt wohne ich mit meiner Frau und meinen Kindern halt in einem Haus aus Lehm. Mehr kann ich mir nicht leisten. Besser als nichts." Vorurteile sind ein sturer Esel. Einmal in den Köpfen der Menschen einzementiert, halten sie eine Ewigkeit, länger scheinbar als die Lebenserwartung eines in der tropisch feuchten Hitze verfallenden Betontraums.

"Der große Widerstand gegen Lehm ist gleichzeitig der größte Kampf, den wir in Ländern wie Indien und Bangladesch auszutragen haben", erklärt Roland Gnaiger, Architekturprofessor an der Kunstuniversität Linz, der mit seinen Studierenden in den letzten Jahren bereits zwölf solcher Entwicklungsprojekte realisiert hat.

Softe Faktoren

Base Habitat nennt sich das außergewöhnliche, aber mittlerweile international bekannte und oftmals preisgekrönte Programm, das sich auf die kulturelle Pflege lokaler Bautraditionen fokussiert. Im Oktober startet sogar ein eigener viersemestriger Masterstudienlehrgang unter dem Titel Base Habitat. Darin sollen nicht nur Architektur, Bauweise und Projektmanagement vermittelt werden, sondern auch softe Faktoren wie eben der Umgang mit sozialen und technischen Vorurteilen. Aktuell arbeitet die Abteilung an Projekten für die Unido, für die thailändische NGO Baan Doi sowie für die Jane Goodall Foundation in Uganda.

"In einem Monat auf der Baustelle hat man mehr Aha-Effekte als in seinem halben Studium", sagt Anne Rotter. Die 23-jährige Architekturstudentin war fünf Wochen lang vor Ort, hat mit angepackt, mit Händen und Füßen Lehm angemischt und anschließend Schicht für Schicht stampfend aufgemauert. Insgesamt haben rund 20 Leute mitgearbeitet, professionelle Handwerker genauso wie Studentinnen und Studenten aus Linz und eigens für dieses Projekt antrainierte Laien aus dem Dorf. "So eine Praxiserfahrung ist extrem wertvoll", so Rotter. "Und zwar nicht nur für uns Studierende, sondern letztendlich auch für die Pflege und Aufrechterhaltung der Lehmbaukultur."

Kein Arme-Leute-Stempel

Die Große Moschee von Djenné in Mali, etliche Berberstädte im Süden Marokkos und nicht zuletzt Shibam im Hadramaut, jenes imposante Unesco-Weltkulturerbe im Osten Jemens, das dank seiner bis zu neunstöckiger Lehmhochhäuser auch als "Manhattan oder Chicago der Wüste" weltweite Berühmtheit erlangte – die Liste an historischen und mittlerweile auch zeitgenössischen Lehmbauten ließe sich noch lange fortsetzen. "Und mein ganz persönlicher Wunsch", sagt "unser Dominik", Bauleiter Abbrederis, "ist, dass Lehm den Arme-Leute-Stempel und auch den unsagbaren Öko-Touch verliert und endlich zu einem konkurrenzfähigen, alternativen Bauprodukt im Baumarkt wird."

Es gibt Hoffnung. Einer der Nachbarn von Rajendra Paswan, der ein paar Gehminuten vom neuen Lehmhaus entfernt wohnt, hat sich durch das Linzer Projekt so inspiriert gefühlt, dass er nun beschlossen hat, selbst in Lehm zu bauen. Zwar noch nicht die Außenwände, denn diese will er aus gebrannten Ziegeln errichten, jawohl, so doch zumindest die Innenwände. Die nun antrainierten Lehmbauspezialisten im Dorf werden ihm dabei zur Hand gehen. (Wojciech Czaja aus Raxaul, 29.7.2018)