Dass sich der Mensch im Alter gern auf seine Kindheit und Jugend besinnt, ist bekannt. Diesbezügliche nostalgische Rückblenden coram publico im Freundeskreis sind durchaus gefürchtet. Es kommt halt stark auf die Erzählkünste der jeweiligen Person an. Dankenswerterweise hat Facebook heute den Terror der real existierenden Diaabende abgelöst: "Das bin ich mit meinen Opel Escort, aber das war noch vor dem Unfall." Die Funktion "... nicht mehr abonnieren" ist ein wahrer Segen.

Dirk von Lowtzow (Zweiter von links) und Tocotronic singen open-air in der Wiener Arena von der Unendlichkeit.
Foto: Michael Petersohn

Dirk von Lowtzow feiert mit seiner Band Tocotronic heuer 25-Jahr-Jubiläum. Mit dem im Jänner erschienenen Album Die Unendlichkeit veröffentlichte das in Berlin und Hamburg ansässige Quartett nicht nur eine der besten Arbeiten seiner Karriere. Die darauf enthaltenen Lieder kreisen allesamt auch um jene Zeit der großen Gefühle und Sehnsüchte, von denen der Mittvierziger Dirk von Lowtzow einst in seiner Jugend zwischen Eigenheimidylle im Schwarzwald und studentischem Lotterleben in Hamburg umgetrieben wurde.

TocotronicVEVO

Zwischen Teenage Riot im Reihenhaus und Großstadtbeschreibung (Du bist nicht schön, doch auch kein Biest) ist hier vieles möglich. Zur berühmten Nuschelstimme von Lowtzows gesellen sich dazu über die Jahre erworbene Erkenntnisse in Sachen US-Hardcore im Stile von Genregöttern wie Hüsker Dü, bewährte Molligkeit im Hallraum oder auch einmal Streichorchestereinschübe im Bereich künstlerischer Gefühligkeitserzeugung. Nach dem Meisterwerk Kapitulation von 2007 handelt es sich bei Die Unendlichkeit definitiv um das gelungenste aller Tocotronic-Alben.

Mittelständisches Handwerk

Bei den leider oft etwas wackeligen und verhuschten Liveauftritten der Band werden sich allerdings mit Sicherheit alte Klassiker wie Pure Vernunft darf niemals siegen, Aber hier leben, nein danke oder Die Idee ist gut, aber die Welt noch nicht bereit dazugesellen. Ob auch Musik aus jener Zeit ertönen wird, in der die Band noch nicht im zeitlosen Schwarz, sondern in Cordhosen, Trainingsjacken und lustigen, im Vierte-Hand-Laden erworbenen Werbe-T-Shirts von mittelständischen Handwerksbetrieben auftrat, bleibt abzuwarten.

Hymnen wie Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein oder Wir kommen, um uns zu beschweren könnten heutzutage doch etwas aufgesetzt wirken. Andererseits gibt es kaum etwas Tristeres und Langweiligeres als würdevolles Altern. Das Gegenteil ist auch wahr. (Christian Schachinger, 27.7.2018)