Im Mai 2018 kam Maria, nach christlichem Glauben die Mutter Jesu, unverhofft zu politischen Ehren: "Wer glaubt, dass die FPÖ die Interessen der kleinen Leute vertritt, das ist so wie eine Marienerscheinung im Rotlichtviertel." Das sagte der Ex-Bundeskanzler und nunmehrige Oppositionspolitiker Christian Kern in der ORF-Sendung "Im Zentrum" am 27. Mai.

Auf allfällige politische Implikationen der Gestalt Marias wird später eingegangen. Zunächst die harten, religionsgeschichtlichen Fakten: Die Evangelien, also die Gründungstexte des Christentums, die über das irdische Wirken ihres Gründers Jesus aus Nazareth berichten, nennen Maria als dessen Mutter. Nur das Lukasevangelium berichtet über die näheren Umstände der Empfängnis: Der Erzengel Gabriel soll der noch sehr jungen, mit einem gewissen Josef verlobten Maria erschienen sein und ihr verkündet haben, Mutter des Sohnes Gottes zu werden (Lukas 1,26-38). Religionsgeschichtlich sind Frauen, die von Göttern schwanger werden, in der Antike weithin bekannt, allein die griechische Mythologie kennt sie zahlreich. Außerchristliche Quellen über die Entstehung des Christentums wissen über die Mutter des Religionsgründers nichts zu berichten.

Die milchgebende Mutter Gottes

Von Relevanz wird Maria für das sich entwickelnde Christentum wohl auch deshalb, weil sonstige weibliche Transzendenzen, sprich Göttinnen, fehlen. Die ikonographische Nähe in Darstellungen der stillenden Maria zu entsprechenden Isisstatuen ist unübersehbar.

Isis und Horus aus der Ptolemäischen Zeit, 332-320 vor Chr.
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In mittelalterlichen Darstellungen ist es dann nicht mehr nur das Jesuskind, das von Marias Busen trinkt: Der Heilige Bernhard von Clairvaux (1090-1153) darf in einer Vision ebenfalls vom Milchstrahl aus Marias Brust trinken. Diese Imagination wird nicht nur vielfach dargestellt, sondern ist im Kontext einer oft hocherotischen Marienlyrik der mittelalterlichen Dichtung zu sehen. Maria wird als ideale Frau buchstäblich angebetet, die Nähe zur weltlichen Minnelyrik ist unübersehbar. Bereits im Mittelalter erscheint Maria – auch weniger erotisch konnotiert – immer wieder Gläubigen.

Die Lactatio Bernardi in einer Darstellung rund um 1500.
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Bernhards Marien-Vision von der barocken Malerin Josefa de Óbidos, zwischen 1660 und 1670.
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Marienverehrung und Pilgerstätten

Die Theologen der Reformation lehnen die exzessive Marienverehrung der katholischen Kirche ab, das Thema ist fortan ein auch in jeder Kirche der jeweiligen Konfession sichtbares Differenzkriterium.

Dieses wird im Zuge der Gegenreformation, aber auch in den geschlossenen konfessionellen katholischen Milieus des 19. und frühen 20. Jahrhunderts hochgehalten – ihnen verdankt sich auch der "Hype" um die Marienerscheinungen von Lourdes und Fatima. Das Lexikon für Theologie und Kirche zählt insgesamt 918 Berichte, von denen 106 ins 19., 427 ins 20. Jahrhundert datieren. Als besonders einflussreich gelten Guadeloupe in Mexiko (1531), Paris, Rue du Bac (1830), La Salette (1846), Lourdes (1858), alle drei in Frankreich und Fatima in Portugal (1917).

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Pilger vor der Grotte von Massabielle in Lourdes, in der Maria dem Mädchen Berrnadette Soubirous erschienen sein soll.

Das selbe Lexikon hält indes auch nüchtern fest, dass nie die Erscheinung als solche anerkannt wird – die sich der Überprüfbarkeit entzieht – sondern es wird lediglich festgestellt, dass die Botschaft, welche die Seher und Seherinnen meinen vernommen zu haben, nicht der Glaubenslehre der katholischen Kirche widerspricht.

Die Definition der Erscheinung selbst lautet wie folgt: "Marienerscheinungen sind psychische Eindrücke oder Erlebnisse, in denen eine Person Maria, die Mutter Jesu als innenhaft gegenwärtig erkennt." Dementsprechend sind die "anerkannten" Botschaften der Gottesmutter in der Regel auch theologisch relativ harmlos und enthalten keine kirchenkritischen "Enthüllungen" à la Dan Brown. In Lourdes wurde die junge Hirtin Bernadette Soubirous etwa dazu aufgefordert, für die Sünder und die kranke Welt zu beten und am Erscheinungsort eine Kapelle zu bauen.

Geheimnis- und Verschwörungstheorien beförderte dann die Botschaft von Fatima insofern, als dort ein Teil, das sogenannte dritte Geheimnis, erst 2000 veröffentlicht wurde. Es enthielt, Visionen über Krieg und Glaubensabfall und, wenn man es so deuten wollte, das Attentat auf Papst Johannes Paul II.

Gerade die jüngsten Marienerscheinungen von Lourdes und Fatima haben in Europa einen bis heute anhaltenden Boom an Pilgerfahrten zu diesen Plätzen ausgelöst. Der dritte in diesem Zusammenhang bekannt Ort, Medjugorje, im heutigen Bosnien-Herzegowina hingegen befindet sich noch nicht im Status der offiziellen Anerkennung im oben beschriebenen Sinn.

Maria mit Jesuskind. Jean Fouquet (circa 1450).
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Könnte Maria im Rotlichtviertel erscheinen?

Religionswissenschaftlich betrachtet sind Marienerscheinungen eine kulturspezifische Ausprägung der in allen Religionssystemen überlieferten, direkten Begegnungen mit einer Form von personaler Transzendenz. Ob und in welchem Ausmaß selbst innerhalb des Religionssystems an derartige Berichte geglaubt wird, hängt stark vom kulturellen Kontext ab, wie der sehr zurückhaltende Eintrag im Lexikon für Theologie und Kirche und der Umgang des Vatikan mit den jüngsten Erscheinungen (Medjugorje) zeigt.

Bleibt also noch die Frage nach der Wahrscheinlichkeit einer Marienerscheinung im Rotlichtviertel, wie sie Kern angesprochen hat. In Anbetracht der Tatsache, dass gerade die jüngsten Erscheinungen allesamt einen hohen sozialen und wirtschaftlichen Impact auf die jeweilige Region hatten – Lourdes, Fatima und Medjugorje waren abgelegene armselige Dörfchen am Rande der Zivilisation – wäre eine solche Erscheinung im Sinne himmlischer Entwicklungspolitik durchaus nicht abwegig. Erscheinungen – zumindest jene der Gottesmutter – in Parteizentralen hingegen sind aus der bisherigen Quellenlage nicht zu erwarten. (Theresia Heimerl, 15.8.2018)

Literaturhinweise

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