Autor der neuen Kolumne "Mittel-Alter": Ronald Pohl.

Foto: Heribert Corn

Wäre es nach meinen Eltern gegangen, ich hätte etliche Male verschmachten können. Ich bin glücklicher Babyboomer. Die Aufmerksamkeit meiner Erzeuger für mein Wohlergehen war in jeder Hinsicht vorbildlich. Doch muss ich zugeben: Litt ich als ihr Einzelkind Durst, war es mit ihrer Fürsorge vorbei.

Als zuverlässiger Durstlöscher fungierte in soliden Nachkriegshaushalten einzig und allein das gut bekömmliche Nutz- und Fließwasser. Beklagte man einen trockenen Mund, wies der mütterliche Arm automatisch auf den Wasserhahn: "Wohl bekomm's." An hohen Feiertagen – das Christkind drohte einzuschweben, oder die Großmama schaute vorbei, um zu nörgeln – wurde das kostbare Nass mit einem klitzekleinen Schuss Himbeersirup versetzt. Pro Glas nicht mehr, als Blut in eine hungrige Gelse gepasst hätte!

Hatte ich unterwegs Durst, musste ich mit den Angeboten einer widersetzlichen Umwelt vorliebnehmen. Ich leckte dann etwa in der Straßenbahn das Kondenswasser von einer beschlagenen Scheibe. Ich kann nicht behaupten, dass diese Probe meiner Zungenfertigkeit die Zustimmung meiner Eltern gefunden hätte.

Meine Kinder betreten heute einen beliebigen Saal von mehr oder minder feierlicher Bestimmung. Sie gelangen sofort zu der Auffassung, sie müssten ihre Mundhöhle befeuchten. Grüne Plastikgebinde mit medizinisch anmutenden Aufsätzen werden aus unförmigen Taschen gefischt. Die Etiketten verraten, dass jeweils eine exotische Südfrucht und gletscherkaltes Quellwasser spontan miteinander Hochzeit gehalten haben, nur um den Durst eines meiner Kinder zu löschen.

Ganz gewöhnliche Zitronen haben plötzlich Geschwister, die "Limette" heißen und mutmaßlich aus Ländern ohne allgemeines Wahlrecht stammen. Man muss sich heutige Menschen in den Wohlstandszonen als gut befeuchtet vorstellen. Wer heute in der Straßenbahn an einer Glasscheibe leckt, will womöglich wirklich nur sehen, wie sehr sich Wien – nicht nur für Durstleidende – zum Besseren verändert hat. (Ronald Pohl, 1.8.2018)