Sophie, der Popstar aus der digitalen Zwischenwelt, verweigert jedwede Zuschreibungen, seien sie nun künstlerisch oder bezüglich seines Geschlechts.


Foto: Future Classic / Transgressive

Unsere verwirrenden Zeiten verlangen nach Eindeutigkeit. Selbst mit simpelsten Behauptungen, die jeder Grundlage im Faktischen entbehren, kommt man heutzutage durch. Gegenmeinungen – oder gar Argumente – werden als Fake-News bezeichnet. Die grauen "Zeit-Diebe" aus Michael Endes Momo gehen um. Sie erklären uns die Welt über böse Begriffe wie Effizienz und Zweckmäßigkeit und berufen sich auf "Vernunft". Sie verschließen die Herzen und sperren die Grenzen. Die Welt ist gerade kein guter Ort. Wahrscheinlich ist sie es nie gewesen. Was aber soll man machen? Man hat keine andere.

Sophie kommt da gerade recht. Selbst in der Popmusik betrachtet man sein Geschäft längst als Dienstleistungsgewerbe, in dem rascher und freundlicher Service mehr zählt als die Qualität des Gebotenen. Aufblasbar, abwaschbar, wunderbar.

Sophie mit "Faceshopping".
SOPHIE

Sophie setzt in einem müde und gleichförmig gewordenen Genre des Hochglanzes und hohler Gefäße, in die wässriger Inhalt gegossen wird, entschieden auf das Mittel der guten alten Verstörung. Eindeutig ist hier nichts. Zweideutig ist zu wenig. Lass uns die Entscheidung darüber vertagen. Alle haben recht.

Die ursprüngliche Identität als Mann hat die in Schottland geborene Künstlerin mittlerweile abgelegt. Allerdings vermeidet Sophie auch strikt weibliche und Trans- und Queer-Zuordnungen. Das macht die Sache spannend, weil im Übergang vom Rollenbild zum Rollenspiel die ganze Sache erst so richtig Fahrt aufnimmt.

Materialistisches Mädchen

Im programmatischen Song Immaterial hört sich das so an: "I could be anything I want / You could be me and I could be you / Always the same and never the same / Without my legs or my hair / Without my genes or my blood / With no name and with no type of story / Where do I live? / Tell me, where do I exist? / We're just im-ma-ma-material, immaterial boys, immaterial girls ..."

Der sich ziemlich eindeutig auf Madonnas Material Girl berufende Stampfer Immaterial ist auf dem ersten regulären Album Sophies enthalten: Oil Of Every Pearl's Un-Insides, eine dialektale Verballhornung von I Love Every Person's Insides, auf dem die konzeptuell in der Ortlosigkeit oder eben auch in der digitalen Totalität verankerte Kunstperson die Spur zu ihrer ursprünglichen schottischen Herkunft legt. Wer keine Heimat kennt, kann ja auch nirgendwohin gezielt aufbrechen. Den Rest erledigen in Sophies Netzvideos nicht nur grafische Hightechprogramme, etwa in den Videos It's Okay To Cry oder in – Achtung! – Faceshopping. Auch die gute alte Chirurgie dürfte regelmäßig zum Einsatz kommen.

Sophie mit "It's Okay To Cry".
SOPHIE

Musikalisch hebt sich Sophie nicht ganz vom Rest der derzeit vorn an der Front agierenden Kollegenschaft im Hi-Tech-Avant-Pop ab. Fever Ray oder Arca lassen ebenso grüßen wie FKA Twigs oder Kelela. Aber eben nicht ganz. Die nicht konsequent nach Radioeinsatz schreienden Songs auf Oil Of Every Pearl's Un-Insides kommen zwar oft getarnt als gängiger und ein wenig schriller Plastikpop daher (Eighties-Mainstream, Post-Grime, R 'n' B, Brett und anything goes). Den kennt man vom gängigen asiatischen Niedlichkeits- und Techno-Barbie-Pop.

Ponyboy und Ego-Shooter

Allerdings beschleicht einen recht bald die begründete Vermutung, dass etwas nicht stimmt. Bevor nämlich ein Song im Refrain Richtung Welthit kippt, setzt es mindestens brummende, zischende oder knarzende Störgeräusche. Im Ernstfall, etwa in besagtem Stück Faceshopping oder auch im auf eine Fetischpraktik verweisenden Ponyboy, bricht über den tapferen Konsumenten mitunter auch der Endzeitlärm einer Pachinko-Halle herein, in der tausend Ego-Shooter gleichzeitig den Weltuntergang einleiten. Hier kippt die niedliche, mit Computereffekten hingebogene, süße Kleinmädchenstimme Sophies hinüber zum Godzilla aus der Steckdose. Mann, Frau, Hello Kitty oder verstrahltes Monster – man weiß nie genau, wer da gerade singt.

Sophie mit "Ponyboy".
SOPHIE

Eine Erkenntnis aus 1000 Jahren Clubgeschichte ist in dieser begrüßenswerten Publikumsverstörung allerdings immer gewiss: Der Bass muss ficken! Der Bass ist es auch, der dieses irre, aus einer möglichen Zukunft winkende Unding eines Albums am Ende in Grund und Boden wummert. Whole New World / Pretend World saugt während neun Minuten die restliche Energie ab. Game over. Endlich Frieden. Nur irgendwo ganz hinten rattert ein Duracell-Hase im Heidi-Kostüm aus Latex vorbei. Was will uns der Künstler damit sagen? Denken Sie nach! (Christian Schachinger, 2.8.2018)