"How Angela Merkel became the Most Powerful Woman in the World" – Cover-Story der amerikanischen Vogue im Juli 2017

Foto: Courtesy of the artist and Gladstone Gallery, New York and Brussels

Wasserblaue Augen, in denen man versinkt, ein melancholischer Blick: So hat Elizabeth Peyton im Vorjahr Angela Merkel für die US-Vogue porträtiert. Ungewöhnlich für die deutsche Kanzlerin, allerdings nicht für die Malerei der US-Amerikanerin: Verträumt, nachdenklich, oft schwermütig ist die Stimmung in ihren Bildnissen.

Foto: Inez and Vinoodh

Aufmerksamkeit erregte Peyton 1993 mit ihrer ersten Ausstellung: Finanziell unterstützt von Courtney Love zeigte sie im Zimmer 828 im New Yorker Chelsea Hotel Porträts von Napoleon, Balzac oder König Ludwig. Persönlichkeiten, die sie faszinierten. Die Künstlerin aber wegen ihrer Porträts von David Bowie, Kurt Cobain oder jüngst des Iceage-Frontmans Elias Bender Rønnenfelt zur Celebrity-Malerin zu erklären, ist falsch.

Musik – Punk und immer mehr Oper – ist neben der Literatur ihre intensivste Inspiration. In den Gesichtern spiegeln sich für Peyton deren Innenwelten: Das Fühlen und Denken eines Menschen beeinflusse die Mimik, also die Muskeln im Gesicht, so verändere letztlich mit der Zeit auch sein Aussehen. In gewisser Weise sind die von ihr Dargestellten für die sie mediale Bilder, aber auch eigene Schnappschüsse als Vorlagen nutzt, aber auch ein Medium für die Künstlerin. Medien, durch die Peyton eigene Gedanken und Gefühle zu Liebe, Schönheit und Vergänglichkeit ausdrückt.

Eventyr heißt ihre Schau in der Salzburger Galerie Ropac, ein altes dänisches Wort für "Abenteuer", aber auch für "Märchen". Wir hätten Märchen notwendig in diesen Tagen, sagt sie im STANDARD-Gespräch.

STANDARD: Worin drückt sich das Märchenhafte in Ihrer Ausstellung aus?

Peyton: ...Es ist nicht so spezifisch. Mir hat tatsächlich jemand empfohlen den Original-Disney "Snow White" anzusehen. Ich war gebannt von seiner Schönheit, dem darin enthaltenen Traum und auch der Art, wie dort mit Angst und Dunkelheit umgegangen wird. – Ich begann mit den Bildern des japanischen Eiskunstläufers Yuzuru Hanyu. Ich schaute mir viele Fotos und Video an, die ihn beim Eislaufen zeigen und ich las sehr viel darüber, wie er trainiert: Er verfolgt verschiedene Wege zu verfolgen, um der Eiskunstläufer zu sein, der er ist: Physisches Training, aber auch etwas wie Hypnose und Körpervisualisierung. Und ich dachte mir, das ist also die Art, wie man so eine Qualität erreicht: Soweit loszulassen, dass der großartigste Teil von Dir zum Vorschein kommen kann.

STANDARD: Wenn man an die Kunst des Porträts denkt, fallen einem Namen ein wie Van Eyck, Rembrandt, Holbein, Van Dyck, Gainsborough, Klimt oder in der Gegenwartskunst Alex Katz und Lucian Freud ...

Peyton: ... Dürer, Munch ...

STANDARD: Hat es einen initialen Moment mit einem Meisterwerk gegeben, der Ihre Leidenschaft für das Genre entfacht hat?

Peyton: Es war mehr das Lesen. Schon als Kind habe ich immer Menschen gemalt. Immer. In einem öden Sommer nach dem Studium las ich viel, etwa Stefan Zweigs Marie Antoinette: Bildnis eines mittleren Charakters. Aber das, was mich umhaute, war eine Napoleon-Biografie. Napoleon hatte eine Vision, darüber wie die Dinge sein sollten und verfolgte sie, ob es nun gut oder schlecht war. Ich war beeindruckt, wie viel er verändert hat. Ich bin nicht religiös erzogen, aber wäre ich mit der Bibel aufgewachsen, wäre es wohl Christus gewesen – mit der Idee, dass ein Mensch die Welt verändern kann.

Beim Lesen realisierte ich, dass ein Porträt nicht nur ein Bild der Person ist, sondern mit der Person auch die Geschichte der Zeit einfängt in der sie lebt. Wie man geht, wie man sich kleidet, das sind Entscheidungen, die nicht zufällig sind. Und daher erzählen die Porträts des jungen Napoleon von Baron Antoine-Jean Gros so viel über die Zeit und wie es sein konnte, dass dieser eine Mensch eine ganze Menge bewirken konnte. Wie auch immer – mir wurde plötzlich klar, dass die Menschen in ihren Gesichtern ihre Geschichten mit sich tragen.

Gemälde und mediale Bilder inspirieren Elizabeth Peyton zu ihren Porträts. Kleine Formate, die den Betrachter in eine romantische Atmosphäre saugen. (Porträts von 2018 – links: Der Künstler Jens Ferdinand Willumsen nach einem Porträt des dänischen Malers Vilhelm Hammershøi (1864-1916) – und rechts: Iceage-Frontman Elias Bender Rønnenfelt)
Fotos: Ulrich Ghezzi

STANDARD: Und wie verändert sich Ihre Beziehung zu den Menschen, die Sie porträtieren?

Peyton: Sie zu malen fühlt sich unvermeidlich an, so als müsste ich es tun. Elias Bender Rønnenfelt wollte ich seit fünf Jahren malen, aber ich tat es nicht. Ich machte Drucke und Radierungen, aber kein Gemälde. Dass ich ihn über so viele Jahre hinweg betrachtet habe, hat letztlich zu diesem Bild geführt. Aber wenn ich Menschen male, fühle ich mich ihnen viel näher.

STANDARD: Kommen Sie in Berührung mit ihren Geschichten?

Peyton: Wenn man soviel Zeit damit verbringt, jemandes Gesicht zu betrachten, kannst du sehr viel über sie lernen, vielleicht nicht Dinge, die man in Worte fassen kann, eher erfühlen. Viele von ihnen schaffen Dinge, die mich besser fühlen lassen, die mir helfen zu leben und die mich inspirieren.

STANDARD: Ist es auch eine Form von "erkennen", in einem psychologischen Sinn?

Peyton: In Goethes Wahlverwandschaften sieht ein Charakter den anderen Hauptcharakter zu Beginn nur durch einen Raum laufen und weiß einfach, dass sie verwandte Seelen sind. Menschen haben solche Erfahrungen, dass sie in einem Sekundenbruchteil alles wissen. Und dann findet man über die Jahre hinweg heraus, wie wahr diese Erfahrung war.

STANDARD: Werden Ihnen auch die Modelle, die sie niemals persönlich gekannt haben, vertraut?

Peyton: Ja. Als ich jünger war, bemerkte ich, dass mir die Menschen des 19. Jahrhunderts näher standen, als die Menschen auf der Straße. Ich verbrachte mehr Zeit mit den Büchern.

STANDARD: Sie sagten, Ihre erste Inspiration war die des Lesens. Aber studieren sie die Alten und Modernen Meister auch?

Peyton: Ja, definitiv. Ich habe den Eindruck beim Betrachten der Altmeister-Porträts, dass sie so etwas wie meine Familie sind. Van Dyck, Munch, Velázquez, Manet, Vigée Le Brun. Es gibt auch eine große französische Stillleben-Malerin des 18. Jahrhunderts. Ihr Name ist Anne Vallayer-Coster. Ich bin auch sehr fasziniert von Delacroix und Courbet.

STANDARD: Erinnern Sie sich beim Betrachten Ihrer Bilder daran, was Sie damals gerade gelesen haben? So wie "Ah, das war als ich Balzacs Illusions perdues gelesen habe."

Peyton: Das kann vorkommen. Aber meistens erinnere ich mich sehr lebhaft an die Musik, die ich während des Malens gehört habe. Ich höre im Atelier sehr repetitiv, manchmal zwei Alben einen ganzen Monat lang. Außerhalb des Studios ist es anders, aber im Studio habe ich andere Bedürfnisse hinsichtlich Musik.

STANDARD: Was liegt auf dem Turntable?

Peyton: Zuletzt kehrte ich zu Jonas Kaufmann zurück. Ich hörte aber auch Musik des Barockkomponisten Monsieur de Sainte-Colombe, dem Lehrer von Marin Marais. Oder ich hörte Musik von Father John Misty, einem US-Rockmusiker. Es funktioniert einfach.

STANDARD: Ich las in einem Interview, dass Sie die Passion der Menschen, für etwas sterben zu wollen, vermissen ...

Peyton: Ich glaube nicht, dass ich das gesagt habe. Ich habe sicher eher etwas gesagt wie: dass eine gewisse Weiblichkeit fehlt, eine Art, Gefühle wertzuschätzen, sie als etwas Starkes, nicht Schwaches zu begreifen! Als ich mit der Malerei begann, war der Kunstbetrieb ziemlich zynisch, wenn es um Malerei ging, die sich mit Schönheit und einer Art von Heroismus beschäftigt. Es scheint, als gäbe es keine heroische Tat, die von einer dunklen Macht unberührt bleibt. Aber die Höhlenrettung von Thailand war ein so schönes Beispiel des Heldentums. Für viele Jahre ist, denke ich, nicht mehr so etwas Schönes passiert. Vielleicht suche ich nach genau solchen Dingen.

Hanyu (Yuzuru Hanyu), 2018
Fotos: Ulrich Ghezz

STANDARD: Weiblichkeit also als etwas Kraftvolles, nicht Schwaches: Manche Ihrer männlichen Modelle schauen ein bisschen weiblicher aus als im realen Leben. Ist das Ihr persönliches Geschenk an sie, sie mit dieser Kraft auszustatten?

Peyton: Wahrscheinlich sind die Menschen, die ich malen will, oft gar nicht so verängstigt bezüglich ihrer femininen Seiten. In anderen Zeiten war es für Männer völlig in Ordnung, sich feminin zu zeigen – mit Poesie, Samt, Blumen – und dennoch Mann zu sein. Beide Qualitäten waren okay. Jetzt – ich verallgemeinere jetzt total – nutzen Frauen männliche Qualitäten, um mächtig zu werden.

STANDARD: Apropos weibliche Macht: Die Vogue bat Sie um ein Porträt von Angela Merkel. Wäre die deutsche Kanzlerin für Sie auch ohne Auftrag interessant gewesen?

Peyton: Wenn ich nicht gewollt hätte, hätte ich es nicht gemacht, denn ich mache nie Auftragsarbeiten. Als die Redaktion anrief, war ich gerade in Berlin. Der US-Präsident war just aus dem Kioto-Klimaabkommen ausgestiegen, und ich dachte: Angela Merkel, sie ist in dieser Zeit die Richtige. Ich dachte mir also: Selbstverständlich sollte ich sie malen. Zunächst sagte ich natürlich, dass ich nicht weiß, ob ich es schaffe, weil man das nie so genau weiß. Aber ich schaute mir alle Interviews an, die ich fand, las viel über sie und war dann ziemlich glücklich, dass ich das Porträt machen konnte. Es fühlte sich wichtig an und ich war geehrt, gefragt zu werden. Das Bild ist eine Collage vieler Fotos, nicht nur zehn Jahre alter, sondern auch älterer. Ihr Gesicht hat sich stark verändert. Sie schaut heute viel trauriger aus.

STANDARD: Eventuell ist das System, in dem sie arbeitet, schuld, und die Männer, die sie trifft, etwa Trump?

Peyton: Nein! Sagen Sie seinen Namen nicht! Wenn man diesen verwendet, gibt man ihm Macht. Starten Sie eine persönliche Aktion: Sagen Sie seinen Namen nicht und lassen ihn so nicht gewinnen. Das ist der Anfang! (Anne Katrin Feßler, 3. 8. 2018)

Elizabeth Peyton: "Kristian Dreaming", 2018
Foto: Ulrich Ghezzi