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Michal Hvorecky: "Bratislava schien nicht zu existieren."

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Michal Hvorecky: Das allerschlimmste Verbrechen in Wilsonstadt.

Foto: Tropen

Noch lange nach der Wende sah ich in Wien und in der Umgebung auf vielen Autobahnschildern eine seltsame Richtung: Pressburg. Doch die Nordost-Autobahn A4 fuhr nicht in die Vergangenheit vor 1918, sondern in meine Heimatstadt, was viele verwirrte. Unsere amerikanischen Verwandten, die am Flughafen Schwechat landeten, konnten den Weg in die Slowakei nicht finden. Bratislava schien nicht zu existieren.

Nicht nur Österreich bevorzugte die ursprünglich genannte Nachbarstadt Wiens. Bis heute gibt es in Bratislava eine Botschaft der Bundesrepublik Deutschland Pressburg, eine Vertretung in der Metropole, die seit fast hundert Jahren anders heißt. Seltsam, finde ich, und irgendwie literarisch, weil, wie wir von Italo Calvino wissen, in den unsichtbaren Städten die Dimension der Zeit keine oder eine untergeordnete Rolle spielt.

Tatsächlich nannten deutsche Einwohner vor dem Ersten Weltkrieg meine Stadt Pressburg, die ungarischen Pozsony und die kleine, zehnprozentige slowakische Minderheit nannte sie Presporok. Viele Juden sprachen alle diese Sprachen und noch dazu Jiddisch.

Träume vom Burgenland

Nach dem Zerfall des österreichisch-ungarischen Reiches wurde am 28. Oktober 1918 in Prag die Tschechoslowakische Republik ausgerufen. Zwei Tage später schloss sich dem Staat durch die Martiner Deklaration auch die Slowakei an – damals äußerte der Nationalrat den Willen des Volkes, in einem gemeinsamen Staat mit dem tschechischen Volk zu leben.

Doch in der mehrsprachigen Grenzstadt an der Donau, nur 60 Kilometer östlich von Wien entfernt, wurde über ganz andere Dinge nachgedacht und diskutiert. Überlegend, welchem der neugegründeten Staaten sie beitreten soll. Die Stadt blieb hartnäckig, um selbstständig agieren zu können. Das erwies sich als besonders schwierig. Die Deutschsprachigen träumten vom Burgenland, die Ungaren von Magyarország. In beiden Nachbarländern drohten die Revolutionen. Beide stolze Nationen hatten große Angst und Vorurteile vor der Tschechoslowakei. Alle Bewohner litten an Armut, allgemeiner Unsicherheit, an dem Chaos, der Gewalt und den Plünderungen der Nachkriegszeit.

Einfluss der US-Slowaken

"Die Stadt Presporok gehört den Ungarn ebenso wenig wie uns. Sie ist eine deutsche Stadt. Aber den Anspruch darauf haben wir, denn sie liegt auf slowakischem Grund", rief der Präsident der neuen tschechoslowakischen Republik Tomás Garrigue Masaryk im Dezember 1918 aus. Unter dem Einfluss der amerikanischen Slowaken sollte die freie Stadt nach dem Präsidenten der Vereinigten Staaten T. W. Wilson Wilsonov oder Wilsonstadt genannt werden.

Wenn die Regel, dass die Hauptstadt eines Staates meistens auch das geschichtliche Zentrum des öffentlichen Lebens ist, gilt, dann bildet Bratislava hier eine Ausnahme. Es gab auch andere Vorschläge: vor allem die Stadt Sankt Martin im Norden, damals wichtiges Zentrum der nationalen und politischen Aufklärung mit dem Nationalfriedhof der slowakischen Romantiker und Realisten.

Wilsonstadt hatten die nach Amerika ausgewanderten Slowaken unterstützt, von der großen Popularität des Präsidenten Woodrow Wilson motiviert. Dieser galt zu der Zeit als Befreier, der den Weltkrieg beendet hatte und die Entstehung der Tschechoslowakei ermöglichte. Die Umbenennung freute auch die ansässigen Deutschen. Sicherlich versuchten sie gleichzeitig auch in ihrer ungünstigen Situation, das Wohlwollen des amerikanischen Präsidenten zu erlangen. Die Vision einer unabhängigen Stadt in der Mitte Europas war sicherlich eine Utopie, doch mit dem realen Vorbild: Danzig, eine Stadt, die während des Krieges lediglich der damaligen Vereinigung der Nationen unterlag.

Heikle Angelegenheit

Doch der Traum von Wilsonstadt war kurz. Symbolisch am ersten Tag des Jahres 1919 marschierte das tschechoslowakische Militär in die Metropole ein. Nach Archivdokumenten starben fünfzehn Zivilisten, der Großteil der Einwohnerschaft blieb verschont. Die Angelegenheit war heikel. Der Tschechoslowakei fiel anfangs nur die linke Seite der Donau zu. Auf dem rechten Ufer provozierte die ungarische Armee, später auch das Regiment des radikalen Kommunisten Béla Kun.

Die Situation wurde noch komplizierter, als die italienischen Offiziere, die eigentlich das tschechoslowakische Regiment befehligten, teilweise mit den Ungarn sympathisierten. Eines Morgens patrouillierten sogar Senegalesen über die Straßen – in Wirklichkeit schwarzbemalte tschechoslowakische Legionäre -, um den Eindruck zu erwecken, die Franzosen hätten ein weiteres Regiment herbeigerufen. Aus Tschechien und Mähren reisten zweitausend Mitglieder des Vereins Sokol an, weil ungarische Bahnbedienstete der Republik den Dienst kündigten.

Trambahn bis nach Wien

Noch im Januar trat die besetzte Stadt der tschechoslowakischen Republik bei. Die neue Bezeichnung wurde erst gute drei Monate später, am 27. März 1919, öffentlich bekanntgemacht: Seitdem heißt sie Bratislava.

Zu dem Zeitpunkt war die Stadt mit 80.000 Einwohnern die größte im slowakischen Teil der neuen Republik. Historisch bedeutend, noch vor Budapest mit Gas ausgestattet, mit Trambahnbetrieb bis nach Wien und einer strategisch günstigen Lage an der Donau, 1927 wurde Bratislava zur "Hauptstadt des slowakischen Landes" erhöht.

Während des österreich-ungarischen Reiches war Pressburg eine Provinzstadt, und ohne die Tschechoslowakei wäre sie das wohl auch geblieben. Unabhängige Wilsonstadt hätte Hitler sicherlich nicht in Ruhe gelassen. Das Schicksal, heute die Hauptstadt der unabhängigen Slowakei zu sein, hätte sie kaum erwartet. (Michal Hvorecky, 6.8.2018)