Open-Air-Kino auf einem Hauptplatz mit besonderem Flair: Die Piazza Grande in Locarno kann 8000 Menschen fassen und ist am Nordufer des Lago Maggiore gelegen.

Foto: Filmfestival Locarno

Dass Filmfestivals manchmal schwer auseinanderzuhalten sind, liegt nicht nur an den Filmen selbst, sondern auch an ihrem sich aus Reportern und Kaufleuten rekrutierenden Publikum. Hier in Locarno haben sie alle ein gelbes Band mit schwarzen Flecken um den Hals, was daran liegt, dass am Ende nicht Palmen oder Löwen verliehen werden, sondern Leoparden. Echte Zuschauer gibt es natürlich auch. In Locarno sind das viele Touristen, die im schönen Tessin und am noch schöneren Lago Maggiore dem Zeitvertreib frönen. Zu diesem Zweck sollte man hier allerdings reichlich im Portemonnaie bei sich haben, ansonsten genügt auch ein gutes Portfolio.

Locarno ist eines jener Filmfestivals, deren traditionsreiche Geschichte bis in die Nachkriegsjahre zurückreicht. Das war jene Zeit, als sich das Kino erstmals mit dem Glanz der mondänen europäischen Schauplätze schmückte und umgekehrt. Der Lido von Venedig, die Croisette von Cannes oder auch Kurorte wie das tschechische Karlsbad schienen wie gemacht für Filmfeste, bei denen Betuchte und Beliebte voneinander profitierten. Das malerische Locarno, eingebettet am Nordufer des Sees, war lange als das kleinste unter den großen angesehen.

Das hat sich in den vergangenen Jahren geändert, Locarno ist heute als eines der weltweit wichtigsten Festivals des Autorenkinos etabliert. Das lag vor allem an der strategischen Raffinesse und natürlich auch am guten Geschmack des ehemaligen Filmkritikers und Autors Carlo Chatrian. Dass der gebürtige Italiener, der das Festival seit sechs Jahren führt, 2020 als künstlerischer Leiter der Berlinale antritt, wird deren sukzessiven Niedergang mit Sicherheit beenden. Auch Filmfestivals sind eben der Konkurrenz ausgesetzt, nicht nur im Wettstreit um prestigeträchtige Produktionen, sondern auch um erfolgreiches Personal.

Stan und Ollie

Eine der wichtigsten Trumpfkarten Locarnos ist der Hauptplatz, die Piazza Grande. Und Chatrian versteht es hervorragend, hier das Populäre und das Überraschende zu verbinden, die bis zu 8000 Besucher jeden Abend nicht zu unter-, aber auch nicht zu überfordern. Ethan Hawke hat nach mehr als zehn Jahren wieder Regie geführt und wird mit Blaze sein Künstlerdrama über den US-Songwriter Blaze Foley präsentieren. Daneben historische Kinokunst des philippinischen Großmeisters Lino Brocka oder Jane Campions verstörender Thriller In the Cut, was Meg Ryan zu verdanken ist, weil diese wie Hawke für die Entgegennahme eines Ehrenpreises vorbeischaut.

Die Pointe am Mittwochabend, dem Eröffnungsfilm Les Beaux Esprits mit Jean-Pierre Darroussin, einer gefälligen französischen Komödie, einen 20-minütigen Stummfilm mit Stan Laurel und Oliver Hardy voranzustellen, verdient jedenfalls Respekt. In Liberty, inszeniert von Leo McCarey, dem hier die große Retrospektive gewidmet ist, treibt das legendäre Duo, dem Gefängnis entflohen, seine tragikomischen Späße auf dem Gerüst eines Wolkenkratzers. Chatrian will sein Festival diesmal "leichter und freier" machen, und wer angesichts der in luftiger Höhe torkelnden Stan und Ollie an die mögliche Absturzgefahr des Festivals dachte, war sicher ein Schelm.

Am Rande der Zivilisation

Es wäre nach den ersten Beiträgen des Wettbewerbs auch unbegründet gewesen. Die chilenische Regisseurin Dominga Sotomayor, mit ihren Filmen regelmäßig auch zu Gast bei der Viennale, hat mit Too Late to Die Young eine weitere schöne Arbeit vorgelegt. Ein paar Familien haben sich hier am Rande der Zivilisation, am Fuße der Anden eine karge Existenz aufgebaut.

Im Zentrum der Erzählung steht eine junge Frau, die nur weg will – der Aufbruch zur bereits in der Stadt lebenden Mutter lässt jedoch wie die Elektrizität auf sich warten. Das Spielfilmdebüt von Kent Jones wiederum steht in der Tradition des sozialrealistischen US-Kinos: Diane überzeugt vor allem dank seiner Hauptdarstellerin Mary Kay Place als eindringliches Porträt einer Frau, die versucht, den Widrigkeiten des Lebens das kleine Glück abzutrotzen.

Das große Glück hingegen wartet, um es mit Stan und Ollie zu sagen, nicht auf denjenigen, der hoch hinauswill. Das wird sich nächsten Samstag zeigen, wenn der Goldene Leopard vergeben wird. (Michael Pekler aus Locarno, 4.8.2018)