Wissenschafter der Stanford University um den Österreicher Marius Wernig nützen Botenstoffe, um Neuronen für Forschungen künstlich herzustellen.

Foto: Getty Images / iStock / Polina Shuvaeva

Ganz so selten ist das Phänomen nicht. Laut Berechnungen der Weltgesundheitsorganisation WHO entwickelt im statistischen Durchschnitt eines von 160 Kindern eine autistische Störung. Weltweit dürften somit rund 25 Millionen Menschen betroffen sein.

Typische Anzeichen wie Zwangsverhalten treten in den ersten fünf Lebensjahren auf, doch die Symptome und ihre Ausprägungen sind überaus vielfältig. Autismus ist eine sehr individuelle Krankheit, wie Fachleute immer wieder betonen. Kein Patient gleicht dem anderen. Diese Diversität verwundert allerdings kaum, wenn man die mutmaßlichen Ursachen des Leidens in Betracht zieht.

Bis zu 80 Prozent genetisch

Autismus ist zu einem wesentlichen Teil erblich begründet. Experten schätzen, dass bis zu 80 Prozent der Erkrankungen von Gendefekten ausgelöst werden. In den meisten Fällen scheinen nicht einzelne DNA-Codes, sondern eine Reihe von Chromosomenabschnitten geschädigt zu sein. Deren Zusammenwirken ergibt vermutlich das komplexe Störungsbild.

Für die Autismusforschung stellt die Vielfalt ein ernsthaftes Problem dar. Wer die Stoffwechselvorgänge und ihre Abweichungen verstehen will, kann nicht einfach im Gehirn der Patienten nachsehen.

Die biochemische Kommunikation zwischen den Neuronen ließe sich womöglich in Zellkulturen studieren, aber auch hier gibt es Schwierigkeiten. Man braucht einerseits eine ausreichende Zahl an Nervenzellen, und diese müssen gleichzeitig die potenziell krankheitserregenden Gendefekte aufweisen. Woher nehmen? Die Köpfe der Betroffenen sind keine Schürfgruben.

Manipulierte Zellkulturen

Marius Wernig hat offenbar eine Lösung gefunden. Der österreichische Molekularbiologe, der an der kalifornischen Stanford University tätig ist, befasst sich intensiv mit der Manipulation von Zellkulturen. Das Prinzip dahinter mutet erstaunlich simpel an. Zellen lassen sich neu programmieren, erklärt Wernig. Spezielle Botenstoffe seien dabei der Schlüssel zum Erfolg. Für diesen Ansatz braucht es keine pluripotenten Stammzellen, die im menschlichen Körper nur in relativ geringerer Zahl vorhanden sind. Stattdessen greifen Wernig und seine Kollegen auf T-Lymphozyten aus dem Blut zurück.

Letztere sind quasi die IT-Einheiten des Immunsystems. Die Forscher statten sie mit zusätzlichem genetischem Material aus, wodurch die weißen Blutkörperchen eine komplette Metamorphose durchlaufen. Die dazu erforderlichen Codes werden als Plasmide – kleine, ringförmige DNA-Partikel – eingebracht. Um die Aufnahme zu ermöglichen, brennen die Wissenschafter zunächst winzige Löcher in die Zellmembranen. Die Plasmide wandern hindurch und gelangen bei der nächsten Zellteilung in die Kerne. Dort entfalten sie dann ihre Wirkung.

Verwandlung durch Transkriptionsfaktoren

Das eingeschleuste Erbgut enthält vier Gene, deren Produkte die Verwandlung ermöglichen. Es sind sogenannte Transkriptionsfaktoren. Solche Proteine binden sich an anderen DNA-Sequenzen und regulieren sie. Ascl1 spielt dabei eine zentrale Rolle. "Das ist ein sehr kleines Molekül", betont Wernig. Dank seines geringen Umfangs kann Ascl1 an jene Stellen andocken, wo reguläre Transkriptionsfaktoren nicht hinkommen.

Und ist der biochemische Zwerg erst mal an seinem Platz, setzt eine Art Kettenreaktion ein. Das neuronale Programm wird gestartet. Zwei weitere Proteine mit den Bezeichnungen Brn2 und Ngn2 unterstützen Ascl1 in seiner Funktion. Der vierte im Bunde, Mytl1l, schaltet andere Regelkreise ab. So wird aus dem nun heranwachsenden Neuron nicht etwa eine Leberzelle.

Entwicklung des Nervensystems

Ascl1 ist normalerweise während des Embryonalwachstums aktiv, wie Marius Wernig erläutert. Der Botenstoff leitet die Entwicklung des Nervensystems ein. Für eine effiziente Umwandlung von T-Lymphozyten zu Neuronen müssen allerdings noch zwei zusätzliche Signalwege, BMP und TGF-ßß, chemisch blockiert werden. In der Natur bremsen diese die Proliferation der Neuronen. Ohne sie würde sich der gesamte Embryo als Nervensystem gestalten, erklärt Wernig. Im Labor indes ist die Zügelung unerwünscht.

Die Metamorphose verläuft nicht besonders schnell. Nach drei Wochen jedoch konnten Wernig und sein Team feststellen, dass die neu gezüchteten Neuronen elektrische Impulse generierten – so wie "echte" Nervenzellen eben. Synapsen wurden ebenfalls gebildet. Auch hinsichtlich ihres biochemischen Profils glichen die Verwandelten immer stärker natürlichen Neuronen. Knapp 7000 verschiedene Gene zeigten veränderte Aktivitätsmuster. Ein detaillierter Studienbericht erschien neulich im Fachmagazin "PNAS".

Das neue Verfahren wird es wesentlich einfacher machen, Krankheiten wie Autismus oder Schizophrenie in Zellkulturen nachzubilden, meint Marius Wernig. Blut sei schließlich leicht zu entnehmen und häufig bereits als Patientenprobe vorhanden.

Die einzelnen Gendefekte lassen sich schon heute gezielt erzeugen. Vielleicht kann die Technik zukünftig auch zu regenerativen Zwecken eingesetzt werden, glaubt Wernig. Nachgezüchtete Nervenzellen als Ersatz für zerstörte Neuronen: Bis dahin dürfte es ein weiter Weg sein. (Kurt de Swaaf, 15.8.2018)