Die Politiker selbst sind aufgerufen, Politik aus christlicher Verantwortung zu machen.

Cartoon: Michael Murschetz

Kurt Remele bezieht sich in seinem Gastkommentar im STANDARD vom vergangenen Wochenende ("Sebastian Kurz und die katholische Soziallehre",) auf Christian Konrad und kritisiert mit ihm die Migrationspolitik der ÖVP. Beide kommen zu ähnlichen Schlüssen: Die ÖVP sei keine christlich-soziale Partei mehr, meinte der eine. Der andere vermeint Schwierigkeiten der ÖVP mit ihren christlichen Wurzeln und schon seit Jahrzehnten tiefe Gräben zwischen katholischer Soziallehre und ÖVP zu erkennen.

Kein Recht

Beide beziehen sich auf ihre persönliche Auslegung der Grundwerte der Soziallehre, und das ist ihr gutes Recht. Sebastian Kurz und die ÖVP beziehen sich auf ihre eigene Auslegung derselben Grundwerte: Auch das ist ihr gutes Recht. Ich spreche den beiden Kritikern ihre christliche Wertorientierung nicht ab, dazu habe ich kein Recht. Ebenso wenig haben die beiden Kritiker das Recht, dies pauschal bei Sebastian Kurz und der ÖVP zu tun.

Wie komme ich dazu, festzustellen, dass sozusagen beide recht haben, die Kritiker und die Kritisierten? Weil ich die Lehren der katholischen Kirche zur konkreten Anwendung der Soziallehre auf die Tagespolitik kenne. Ich beziehe mich dabei auch auf die lehrmäßige Note von Kardinal Josef Ratzinger, an die Politiker und alle anderen politisch aktiven Laien.

Ratzingers Diktum

Darin erläuterte er im November 2002: "Es ist nicht Aufgabe der Kirche, konkrete Lösungen – oder gar ausschließliche Lösungen – für zeitliche Fragen zu entwickeln, die Gott dem freien und verantwortlichen Urteil eines jeden überlassen hat ... Auf der Ebene der konkreten politischen Auseinandersetzung muss man beachten, dass einige Entscheidungen in sozialen Fragen kontingenten Charakter haben, dass moralisch oft unterschiedliche konkrete Strategien möglich sind, um denselben Grundwert zu verwirklichen oder zu garantieren, dass einige politische Grundprinzipien auf verschiedene Weise interpretiert werden können und dass ein guter Teil der politischen Fragestellungen komplexer Natur sind. Dies erklärt, weshalb es im Allgemeinen mehrere Parteien gibt, in denen die Katholiken aktiv mitarbeiten können, um – insbesondere durch die parlamentarische Vertretung – ihr Recht und ihre Pflicht beim Aufbau der Gesellschaft ihres Landes auszuüben."

Josef Ratzinger betonte auch, dass katholische Politiker daher die Verpflichtung haben, sich ihr Gewissen zu bilden, sich mit der Katholischen Soziallehre auseinanderzusetzen und entsprechend zu handeln.

Damit betont der spätere Papst, was seit vielen Jahren Lehre und gelebte Praxis auch der katholischen Kirchenführung ist: deutliche Worte in Grundsatzfragen des Glaubens, der Moral und der Sittenlehre, aber keine Aussagen zu Einzelfragen der konkreten Politik, also keine Entwicklung einer "christlichen Politik, welche christdemokratische Parteien zu befolgen hätten".

Selber entscheiden

Die Politiker selbst sind also aufgerufen, Politik aus christlicher Verantwortung zu machen: Aber sie treffen ihre Entscheidungen selbst, aufgrund ihres Gewissens, und folgen dabei keinen Aufträgen der Bischöfe oder des Papsts. Auch päpstliche Rundschreiben, ebenso wie die Belehrung von Josef Ratzinger haben keinen verbindlichen Charakter! Der Politiker, der sich auf christliche Grundwerte beruft und ihnen folgen will, muss sich mit diesen Meinungen auseinandersetzen, aber ist in seiner Entscheidung frei, nur seinem Gewissen verpflichtet.

Was wäre denn die Alternative? Eine christliche Politik, also eine ganz bestimmte Politik in all den Einzelfragen der Reformnotwendigkeiten des Tages, die sich landesweit, in den Regionen und in den Gemeinden tagtäglich stellen? Wer sollte so eine Politik festlegen, wer sollte entscheiden, was christliche Politik ist? Der Papst, die Bischöfe, die Ortspfarrer? Im tiefen Mittelalter war es wohl so. Aber gerade daraus wird klar: In einer Demokratie entscheiden diese Fragen die Menschen selbst und ihre gewählten Vertreter! In der Demokratie ist der Richter über die Werte, also die entscheidende Kraft, das Volk selbst. Das ist gängige Praxis in unseren Demokratien, das ist die Meinung von Kardinal Ratzinger, das entspricht dem Grundsatz des Mariazeller Manifests vom Jahre 1952: "eine freie Kirche in einem freien Staat".

Die ÖVP hat dies in ihren Grundsatzprogrammen auch seit Jahrzehnten klargemacht:

In ihrem Salzburger Programm 1972 ist das Bekenntnis zu den drei Grundwerten der Soziallehre (Personalismus, Solidarismus, Subsidiarität) verankert. Gleichzeitig legte die Partei fest: Wir sind offen für Christen und für alle, die sich aus anderen Beweggründen zu einem humanistischen Menschenbild bekennen. Wir anerkennen die Selbstständigkeit der Kirchen und Religionsgemeinschaften und deren freies öffentliches Wirken. Wir binden uns an keine Konfession oder kirchliche Institution. Im Wiener Programm der ÖVP 1995 definierte sich die ÖVP zusätzlich als christdemokratische Partei, im neuen, jetzt geltenden Grundsatzprogramm 2015 (verantwortlich dafür war Gernot Blümel) bestätigte sie diese Grundsatzpositionen und fügte die Nachhaltigkeit als weiteren Grundwert dazu.

Grundwerte der Soziallehre

Die ÖVP bekannte sich also konstant seit 1972 und schon vorher zu den Grundwerten der Soziallehre, nahm aber gleichzeitig die Freiheit für sich in Anspruch, Fragen der konkreten Politik nach ihren eigenen Regeln zu entscheiden. Genau so, wie es Josef Ratzinger formulierte.

Daher kann es zu konkreten Fragen der Migrationspolitik unter Politikern, die aus christlicher Verantwortung Politik machen wollen, zu verschiedenen Meinungen kommen: eben zwischen Christian Konrad und Sebastian Kurz. Der eine stellt die Gesinnungsethik in den Vordergrund, der andere die Verantwortungsethik. Verantwortung nicht nur für die Menschen in den Ländern in Not und jenen an unseren Grenzen, sondern auch für die bereits bei uns Angekommenen und für die Österreicherinnen und Österreicher. Sie haben Asylanten, Asylwerber, Kriegsflüchtlinge und Migranten großzügig aufgenommen und unterstützt. Beide können sich zu Recht auf die gleichen, christlichen Grundwerte berufen. Wessen Vorstellungen allerdings umgesetzt werden, entscheiden dann die demokratisch dazu berufenen Institutionen.

Unanwendbare Kategorien

Die Schlussfolgerung von Kurt Remele, dass das Karussell der Politik sich nach links bewegen würde, wenn es sich nach der Melodie der katholischen Soziallehre bewegen würde, ist daher für mich nicht nachvollziehbar. Links und rechts sind hier unanwendbare Kategorien. (Andreas Khol, 10.8.2018)