Ein Kind zu verlieren, sagt Susan Bro, das sei, als hätte man dir einen Arm oder ein Bein amputiert. "Du musst es überleben, das Leben muss ja weitergehen. Es ist nicht das, was du dir je vorgestellt hast, aber du kannst es schaffen." Sie habe überlebt, was vor einem Jahr passierte – also werde sie wohl auch diesen Jahrestag überleben. "Schluck’s runter", das sei seit einem Jahr ihr Lebensmotto, sagt sie.

Susan Bro hat ihre Tochter verloren, an jenem 12. August 2017, an dem das beschauliche Charlottesville im Chaos versank; an dem die postkartenschön zwischen grünen Hügeln gelegene Universitätsstadt in Virginia eine Machtdemonstration von Neonazis erlebte, wie man sie in Amerika bis dahin für unvorstellbar gehalten hatte. Nach einer im Zuge heftiger Ausschreitungen abgebrochenen Kundgebung rechtsextremer Fanatiker raste der 20-jährige James Alex Field mit seinem Auto in die Menschenmenge. Heather Heyer überlebte das Attentat nicht. Deshalb sitzt Susan Bro im Büro einer Stiftung, die dem Andenken an ihre Tochter gewidmet ist.

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Bei dem Autoanschlag auf Gegendemonstranten starb die 32-jährige Heather Heyer.
Foto: Ryan Kelly/The Daily Progress via AP

Kämpfen gegen Hass und Unrecht

An den Wänden dominiert die Farbe Lila: Heathers Lieblingsfarbe. Die Stiftung, so stellt es sich die ehemalige Lehrerin vor, soll irgendwann so viele Spenden gesammelt haben, dass es reicht, begabten Teenagern aus einfachen Verhältnissen ein Studium zu finanzieren. Ein Klimmzug angesichts der horrenden Studiengebühren an US-Colleges. Sie werde kämpfen, um einer neuen Generation eine gute Bildung zu ermöglichen. Menschen, die sich engagieren, sich empören, wenn sie Unrecht sehen. Letzteres sei die Maxime ihrer Tochter gewesen. "Wer geglaubt hat, mein Kind durch Terror zum Schweigen bringen zu können, der hat sich geirrt."

Der Anwalt Larry Miller, bei dem Heyer beschäftigt war, hat ein Zimmer seiner Kanzlei räumen lassen, damit Susan Bro ein Domizil für ihre Stiftung hat. Alfred Wilson, Millers rechte Hand, erzählt von den Spätfolgen des Attentats. Eine junge Kollegin hat gekündigt, weil sie ihre Nerven nicht mehr unter Kontrolle bekam an diesem Ort, an dem so vieles an Heather erinnert. Auch sie war vor zwölf Monaten am Tatort – und jedes Mal, wenn eine Tür laut ins Schloss fiel, musste sie an die schrecklichen Szenen denken. An das Geräusch des Aufpralls, als der graue Dodge Menschen durch die Luft wirbelte. Wilson muss jedes Mal aufs Neue um Fassung ringen, wenn eine dieser E-Mails bei ihm eingeht: drohende, höhnische, hasserfüllte Mails.

Zum Beispiel: Wann immer er an den Tod dieses wertlosen Stücks Scheiße denke, erfülle das sein Herz mit purer Freude, schrieb jemand unter dem Pseudonym Dragon Sailing. "Schade, dass der Fahrer nicht alle erwischt hat." Ein anderer schickte ein Video von der Attacke, unterlegt mit Jubelklängen. So geht das seit einem Jahr, zwei bis drei solcher Mails erhält Wilson pro Tag.

Heather Heyers Mutter Susan Bro will das Andenken an ihre Tochter wahren, indem sie Geld für Bildungsprojekte sammelt.
Foto: Frank Herrmann

Manchmal geht es auch direkt gegen ihn, einen Afroamerikaner. Er würde diese Leute gern treffen, sagt Wilson, nur um zu begreifen, woher diese Wut komme. Sein Sohn hat sich einen voluminösen Afro wachsen lassen. Der Vater würde am liebsten zur Schere greifen, weil er nicht möchte, dass der 18-Jährige zur Zielscheibe wird. Andererseits versteht er es: Er wolle seine Identität nicht verbergen, jetzt erst recht nicht, hat ihm der Junge erklärt.

Charlottesville ein Jahr danach – das ist eine Stadt voller Unruhe. Eine Stadt, in der die Emotionen aufwallen, sobald im Rathaus ein Bürgerforum stattfindet. Es ist aber auch eine Stadt im Wandel; eine Stadt, die zum ersten Mal eine schwarze Bürgermeisterin hat. Dass Charlottesville so sträflich unvorbereitet war, als die rechten Horden einfielen, wurde der alten Garde zum Verhängnis. Noch immer ist unbegreiflich, warum die Polizisten, die eine Kundgebung der Alt-Right-Bewegung abzuschirmen hatten, tatenlos zusahen, wie rechte Schläger auf Gegendemonstranten losgingen. Warum eine dubiose Miliz mit Sturmgewehren aufziehen konnte, um die weißen Über legenheitsfanatiker zu schützen.

Die erste schwarze Bürgermeisterin

Dem Ärger über den Kontrollverlust hat Nikuyah Walker ihren Aufstieg zu verdanken. Sie war als Unabhängige ins Rennen ums Bürgermeisteramt gegangen. Die Sozialarbeiterin kennt das Elend in heruntergekommenen Mietskasernen, in denen mehrheitlich Schwarze wohnen. Sie macht es zum Thema, sie will Bauunternehmer zwingen, in ihren Projekten mehr Sozialwohnungen als bisher anzubieten. Walker, so meint die Historikerin Andrea Douglas, sei eine Symbolfigur der neuen Unruhe. Sie bringe manche in diesem netten Städtchen überhaupt erst dazu, einer Realität ins Auge zu blicken, die man bisher verdrängt hatte.

Charlottesville, erklärt Douglas, verstehe sich als linksliberale Insel in der ländlichen, eher konservativen Mitte Virginias. Urban, tolerant, geprägt durch eine traditionsreiche Universität. Im November 2016 gab sie Hillary Clinton mit glasklarer Mehrheit den Vorzug vor Donald Trump.

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12. August 2017: Eine Demonstration Rechtsextremer artete in gewaltsame Unruhen aus, die schließlich ein Menschenleben forderten.
Foto: REUTERS/Joshua Roberts

In einem Buchladen in der Fußgängerpassage liest John Grisham bisweilen aus seinen Bestsellern. Zu einer Ausnahmestadt habe man sich verklärt, meint Douglas, "dabei war das nur ein Mythos". Unangenehme Wahrheiten habe man lange unter den Teppich gekehrt, weil sie nicht ins Bild vom aufgeklärten, progressiven Charlottesville passten. Ein Beispiel: Nur jeder fünfte der 48.000 Einwohner hat eine dunkle Hautfarbe – doch wenn Polizisten Passanten anhalten, dann seien zu achtzig Prozent Afroamerikaner betroffen.

Jalane Schmidt hat zu einem Rundgang durch die Innenstadt eingeladen, er beginnt am einstigen Sklavenmarkt. Eine winzige, unscheinbare Bronzeplatte erinnert daran. In kleinen Parks reiten die Südstaatengeneräle Robert Lee und Thomas Jackson in die imaginäre Ferne: überlebensgroße Bronzefiguren, an denen sich heftiger Streit entzündet hat. Dass sie demontiert werden sollten, war einer der Gründe, warum die Neonazis Charlottesville ins Visier nahmen. Nach der Gewaltorgie des Sommers 2017 hat man sie in schwarze Planen gehüllt – bis vor sechs Monaten ein Richter entschied, dass Lee und Jackson weiterhin unverhüllt auf ihren Sockeln thronen dürfen und nicht weichen müssen.

Noch immer ziehen die Denkmäler Fanatiker an, Wallfahrtsorten gleich. Weshalb Schmidt manchmal noch spätabends in die Parks eilt, um Flagge zu zeigen. 49 Jahre alt, Mutter zweier Töchter, Dozentin für religiöse Studien, ist sie auch Aktivistin bei "Black Lives Matter": Die Devise des Netzwerks lautet, den öffentlichen Raum nicht den Neonazis zu überlassen. Sobald einer der Fanatiker auftaucht, wird Alarm geschlagen. "Diese Leute sollen sich unwohl fühlen", sagt Schmidt. "Sie sollen spüren, dass sie nicht willkommen sind."

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Präsident Trump verurteilte die Gewalt "auf beiden Seiten". Dafür erntete er heftige Kritik.
Foto: REUTERS/Jonathan Ernst/File Photo

Nachdenken, bevor man redet

Und Donald Trump? Susan Bro macht eine abwehrende Handbewegung und sagt: "Er ist ein Symptom dafür, was alles schiefläuft in unserem Land. Er wäre ja nicht gewählt worden, wenn so viele Leute nicht so viel Hass in sich hätten." Würde sie ihn treffen, würde sie ihm raten, was sie in ihrer Schule auch ihren Viertklässlern rät: Nachdenken, bevor man redet. Immer bei der Wahrheit bleiben. Und: Verantwortung übernehmen für das, was man mit Worten ausgelöst hat. (Frank Herrmann aus Charlottesville, 12.8.2018)