Die türkische Zentralbank kündigte am Montag an, die Liquiditätsversorgung der Geschäftsbanken sicherzustellen.

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Der deutsche Wirtschaftswissenschafter Clemens Fuest meint, die US-Sanktionen gegen die Türkei seien der "Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat".

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München/Ankara – Die türkische Notenbank muss angesichts der Lirakrise ein deutliches Signal setzen und den Leitzins kräftig anheben, meint der Türkei-Experte des Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW), Richard Grieveson. "Eine Anhebung um rund 500 Basispunkte wäre wahrscheinlich das Minimum", sagte Grieveson am Montag der APA.

Schon beim Zentralbank-Meeting vor drei Wochen habe der Markt eine Zinserhöhung um 100 Basispunkte, also einen Prozentpunkt, auf 18,75 Prozent erwartet. "Damals hätte das noch gereicht", meint Grieveson. Die Erwartung der Finanzmärkte sei aber enttäuscht worden. Inzwischen sei noch der Streit mit den USA dazugekommen, "und jetzt gibt es wirklich Panik im Fremdwährungsmarkt". Nun sei ein klares Statement der Notenbank notwendig – wobei es schwer sei zu sagen, welche Erhöhung optimal wäre. Die Bandbreite der Analystenmeinungen reiche von 300 bis zu 1.000 Basispunkten.

Dabei gehe es nicht einmal so sehr darum, dass die Höhe der Zinsen ein Problem wäre. Die Inflation betrage rund 16 Prozent, die Realzinsen somit fast zwei Prozent, so Grieveson. "Das ist normalerweise genug, sogar ziemlich optimal." Das Problem sei aber, dass die wiederholten Beteuerungen der Regierung, wonach die Zentralbank unabhängig sei, nicht ernst genommen würden. Die Notenbank habe in den letzten fünf, sechs Jahren zwar die Zinsen immer wieder erhöht, aber immer zu spät und zu wenig. "Das Inflationsziel der türkischen Zentralbank liegt bei fünf Prozent. Das haben sie seit 2011 nie erreicht."

Spannungen mit den USA

Ein zweiter Schlüsselfaktor für die Liraabwertung seien die steigenden Spannungen im Verhältnis der Türkei mit den USA und die offensichtliche Entschlossenheit von Präsident Recep Tayyip Erdoğan, es auf einen Wirtschaftskrieg ankommen zu lassen. "Wenn er diesen Kurs weiter verfolgt, wird die türkische Wirtschaft schwer darunter leiden", sagt der WIIW-Ökonom.

Der dritte wichtige Faktor sei die Straffung der Geldpolitik durch die US-Notenbank. "Die Türkei hat ein hohes Leistungsbilanzdefizit von fünf, sechs Prozent des BIP, und sie braucht US-Dollar, um dieses Defizit zu finanzieren. In den letzten zehn Jahren war das relativ einfach zu schaffen, weil die US-Zinsen niedrig waren und es zu viele Dollar auf dem Markt gab." Seit April beginne sich das aber zu ändern.

Dabei gehe es nicht um die Staatsschulden oder die Schulden der privaten Haushalte, deren Verschuldung ebenfalls nicht sehr hoch sei, so Grieveson. "Die Staatsschulden betragen 28 Prozent des BIP, das ist sehr niedrig. Das Budgetdefizit ist mit zwei bis 2,5 Prozent auch nicht sehr hoch."

Pleitewelle in Immobilien- und Baubranche

Problematisch sei aber die Situation der Unternehmen, wobei man zwei Gruppen unterscheiden müsse. Die Exporteure und die Tourismusbranche hätten zwar Schulden in Dollar oder Euro, aber auch Einnahmen in diesen Währungen. Problematisch seien angesichts des Lira-Wertverfalls die Fremdwährungsschulden der Immobilien- und der Baubranche, die ihr starkes Wachstum der letzten Jahre vor allem mit Krediten finanziert hätten. "Diese Firmen haben relativ wenig Einnahmen in Dollar oder Euro und haben nun große Probleme, ihre Schulden zu finanzieren." Es wäre eine Überraschung, wenn es in den nächsten Monaten nicht zu einer Pleitewelle kommen würde, sagt Grieveson.

Stemmen gegen den Währungsverfall

Die Türkei versucht sich unterdessen gegen den dramatischen Verfall der Lira zu stemmen. Die Zentralbank kündigte am Montagmorgen an, die Liquiditätsversorgung der Geschäftsbanken sicherzustellen. Sie werde den Finanzmarkt genau beobachten und alle notwendigen Schritte ergreifen, um die Finanzstabilität zu sichern. Das half der Lira aber nur kurzfristig. Die türkische Währung legte zunächst zu, rutschte dann aber wieder ab.

Der Chef des Münchner Wirtschaftsforschungsinstituts Ifo, Clemens Fuest, rät der Türkei deshalb, Hilfe beim Internationalen Währungsfonds (IWF) zu beantragen. "Wir müssen uns massiv Sorgen machen", schrieb er im "Handelsblatt". Die Ankündigung von US-Sanktionen gegen die Türkei, die seit Montagmorgen gelten, sei der "Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat". Allerdings sind IWF-Hilfen mit Auflagen für die Wirtschaftspolitik verbunden.

Aktionsplan zur Beruhigung

Der türkische Finanzminister Berat Albayrak hatte am Wochenende einen Aktionsplan für die Wirtschaft angekündigt, der die Märkte beruhigen und den starken Kursverfall der Lira stoppen sollte. "Von Montagmorgen an werden unsere Institutionen die notwendigen Schritte unternehmen und dies den Märkten mitteilen", sagte er der Zeitung "Hürriyet".

Die Zentralbank erklärte am Morgen, dass sie die Bestimmungen für Lirareserven gesenkt habe. Dadurch würden dem Finanzmarkt rund zehn Milliarden Lira, sechs Milliarden Dollar sowie Goldguthaben im Wert von drei Milliarden Dollar an Liquidität zugeführt. Zusätzlich zum Dollar könnten auch Euro zur Absicherung von Lirareserven genutzt werden. Aufgrund der Währungskrise hat indes die türkische Bankenaufsicht BDDK Swap-Transaktionen mit ausländischen Investoren begrenzt. Künftig sollen nurmehr 50 Prozent des Eigenkapitals der jeweiligen Banken aus Swap-Transaktionen bestehen.

Die Lira hat seit Jahresbeginn mehr als 40 Prozent ihres Werts verloren. Allein am Freitag hatte sie 18 Prozent eingebüßt und war auf ein Rekordtief von 7,24 zum Dollar gefallen. Es war der größte Verlust an einem einzigen Tag seit 2001. Ein wesentlicher Grund dafür sind Befürchtungen, Erdoğan, der seit einer Verfassungsänderung mit besonders großer Machtfülle ausgestattet ist, könnte sich massiv in die Wirtschaft und die Währungspolitik einmischen. So wächst die Besorgnis, dass die Notenbank ihre Unabhängigkeit verliert. Zudem liegt Erdoğan mit dem Nato-Partner USA bei mehreren Themen über Kreuz, darunter die unterschiedlichen Interessen im Syrien-Konflikt.

"Angriff" auf die Türkei

Albayrak, der Schwiegersohn Erdoğans, nannte die Schwäche der Lira einen Angriff. Ähnlich äußerte sich Erdoğan selbst. Am Wochenende bezeichnete er den Kursverfall als "Raketen" in einem Wirtschaftskrieg gegen die Türkei. Der Weg aus der "Währungsverschwörung" bestehe darin, die Produktion zu erhöhen und die Zinsen zu senken. Erdoğan hat sich selbst wiederholt als "Gegner der Zinsen" bezeichnet und angekündigt, eine größere Kontrolle über die Geldpolitik auszuüben. Er will, dass die Banken billige Kredite vergeben und so das Wirtschaftswachstum ankurbeln. Anleger befürchten jedoch, dass es zu einer Überhitzung kommen könnte. Experten haben zuletzt betont, dass eine deutliche Zinserhöhung den Liraverfall bremsen könnte.

Am Freitag hatte US-Präsident Donald Trump eine Verdoppelung der Sonderzölle auf Stahl und Aluminium aus der Türkei angeordnet. Erdoğan drohte daraufhin mit einer wirtschaftlichen und politischen Abkehr vom Westen und einer stärkeren Hinwendung zu Russland, China und der Ukraine. Die Türkei habe Alternativen, schrieb Erdoğan in einem Kommentar in der "New York Times" vom Wochenende. Wenn die USA die Souveränität der Türkei nicht respektierten, könne die Partnerschaft in Gefahr geraten. Dann könne es für die Türkei nötig werden, sich "nach neuen Freunden und Verbündeten umzusehen".

Euro auf neuem Einjahrestief

Auch der Euro steht weiter unter Druck. Am Montagmorgen kostete er zeitweilig 1,1365 Dollar und damit so wenig wie zuletzt im Juli 2017. Die Europäische Zentralbank hatte den Referenzkurs am Freitagnachmittag noch auf 1,1456 Dollar festgesetzt.

Der Euro verliert derzeit an Wert, weil der Kursverfall der Lira Sorgen um einige europäische Banken mit viel Geschäft in der Türkei hervorruft. Am stärksten betroffen sind spanische Banken, die rund 83 Milliarden Dollar im Topf haben. Französische Banken haben 35 Milliarden Dollar ihres Geldes angelegt, italienische 18,1 Milliarden und deutsche knapp 13 Milliarden Dollar. Auch an den asiatischen Börsen machte sich der Liraverfall am Wochenstart bemerkbar und sorgte für klare Kursabstürze.

Erfasst werden von der Lirakrise zunehmend auch Währungen großer Schwellenländer. Am Montagmorgen stand besonders der südafrikanische Rand unter Druck, der zwischenzeitlich um zehn Prozent absackte. Auch der mexikanische Peso gab nach, allerdings weniger stark. Viele Investoren stoppen aufgrund wirtschaftlicher Probleme eines Schwellenlandes die Finanzierung anderer Schwellenländer. (red, APA, Reuters, 13.8.2018)