Thomas Wohlfahrter kommt dieser Tage kaum je aus der Seidl-Küche in der Wiener Ungargasse. Man sieht es ihm an.

Foto: Gerhard Wasserbauer

Marinierter Kalbskopf mit Paradeisern kommt in hauchfein gelierten, lauwarmen Scheiben zu Tisch, darüber eine subtile Paradeiser-Marinade.

Foto: Gerhard Wasserbauer

Es komme gar nicht infrage, mit den Preisen hinaufzugehen und bessere Produkte einzukaufen, nur weil jetzt ein nobler Koch in der Küche stehe. Im Gegenteil, meint Thomas Wohlfahrter, Ex-Tantris, Ex-Petz-im-Coburg, der schon einen Michelin-Stern und mehrere Hauben gekocht hat – zuletzt im einstigen Dombeisl. Seine Aufgabe sei vielmehr zu zeigen, was zu Wirtshauspreisen alles möglich sei – und den bislang inexistenten Gemüseeinsatz der Küche hinaufzuschrauben. Das klingt aufs Erste sehr sympathisch.

Das Gasthaus Seidl ist ein bei Stammgästen beliebtes Lokal in der Ungargasse, das durch enge und kantige Sitzbänke, undurchsichtige Fenster zur Straße und eine generell lichtscheue Anmutung des Interieurs in Erinnerung bleibt. Schanigarten in dem Sinn gibt es keinen, ein paar Tische und Sessel stehen aber am Trottoir. Na dann ...

Wohlfahrters Speisekarte liest sich wie ein seltsamer Hybrid aus gut durchgekauter Wirtshausverpflegung und ambitionierter Küche. Auf der einen Seite gibt es Allerweltsgerichte wie Frittatensuppe, Beef Tartare, Schweinsschnitzel oder Gulasch, auf der anderen gegrillte Melanzani mit Kapern-Mandel-Vinaigrette, geräucherte Paprikacreme mit Ricotta oder Filet vom Wolfsbarsch mit Steinpilzen in Paradeisersalsa – zu Preisen, die nur selten über 15 und kaum je über 20 Euro klettern.

Vorspeise mit Klasse

Spätestens wenn die Gerichte serviert werden, kommt jedoch die Frage auf, ob sich so ein Spagat überhaupt lohnt: einerseits die eingesessenen Schnitzel- und Backhendlvernichter nicht vergraulen, andererseits zum gleichen Preis richtig gut kochen wollen und dabei auch auf nominelle Luxuszutaten wie Meeresfisch oder Lamm nicht verzichten – kann sich das ausgehen?

Einstweilen nur in Ansätzen: Backhendl ist luftig und knusprig paniert, das Fleisch aber miachtelt so nachdrücklich, wie man das bei Billighuhn eben in Kauf nehmen muss. Der Erdäpfelsalat ist hingegen von makellos wienerischer Eleganz. Auch die Melanzani-Vorspeise hat Klasse, schmelzig, rauchig, mild pikant und dank gequollener Korinthen zart süßlich – spanisch, fast maurisch in der Anmutung.

Dafür ist der roh marinierte Lachs mit Fenchelsalat (in der Karte wird stattdessen peruanischer Spargel angekündigt?!) eine mittlere Katastrophe, der Fisch speckig dank Intensivmast im Käfig, leimig und dick am Gaumen – selbst der kraftvolle Aniston des Fenchels vermag dem kaum etwas entgegenzustemmen.

Vom Kalb der Kopf

Marinierter Kalbskopf mit Paradeisern (siehe Bild) zeigt aber, wie sich das Experiment vom günstigen Gourmetbeisl vielleicht ausgehen könnte: Das traditionelle – und radikal günstige – Wirtshausessen kommt in hauchfein gelierten, lauwarmen Scheiben zu Tisch, aus denen sich die saftigen Einzelteile willig lösen. Darüber eine subtile Paradeiser-Marinade, ein paar krachknusprige Croutons als Konsistenzkontrast – fertig ist ein makelloser Gang aus der Hochküche, der sich im Wirtshaus keineswegs deplatziert fühlen muss.

Gulasch vom Rindsbackerl ist auch so ein Gang, mit einem Saft, der in seiner Dichte und Kraft geradezu skulptural anmutet – fantastisches Zeug. Statt der kühlschrankduftigen Topfenknödel würde man sich aber ein ordentliches Semmerl wünschen. Dafür geht der Wolfsbarsch spektakulär daneben, obwohl er an der Haut knusprig und doch saftig gebraten wurde: Auch hier wirkt das Fleisch sehr lasch, auch hier macht die schnell gemästete Kreatur sich am Gaumen so breit, dass nicht einmal die dichte Paradeissauce dies überdecken kann. Bei den schüchtern gebratenen Steinpilzen aber gelingt ihr das nur allzu gut. (Severin Corti, RONDO, 17.8.2018)

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