Die Lichtbildnerei war das A und das O meiner Kindertage. Fotos schoss man, um der gewöhnlichen Wirklichkeit ein Schnippchen zu schlagen. Auf den Schwarz-Weiß-Fotografien meines Vaters trug der Alltag noch ein Festgewand aus Sepia. Ich, ein glücklicher Babyboomer, tastete mich anno 1975 mit vagem Ehrgeiz in stärker kolorierte Gefilde vor.

Mit meiner ersten Fotokamera entstanden Bilder, die, obwohl allesamt in der Osthälfte Österreichs aufgenommen, das Farbdesign der sozialistischen Konsumgüterindustrie widerspiegelten. Insofern gab ich, mithilfe von Agfa und anderen Buntmittelfirmen, Dinge wieder, die mir mangels Visum gar nicht zugänglich waren. Ich war eigentlich sozialistischer Realist wider Willen. Ich hätte einen Gromyko- oder Kossygin-Orden verdient gehabt.

Heute regiert Wladimir Putin die Sowjetunion auch schon wieder seit dreißig Jahren. Seine wohlhabendsten Landeskinder trifft man bevorzugt auf dem Wiener Kohlmarkt an. Auf dieser Prachtmeile sorgen sie dafür, dass unsere heimischen Edelsteinschleifer auf dem unbarmherzigen Weltmarkt mitbieten können.

Evidenz dank Selfie

Doch ist das A und O unserer prachtliebenden Tage natürlich die digitale Lichtbildnerei. Die moderne iPhonie wird der Glätte der zeitgenössischen Welt um vieles besser gerecht. Fragt man mich heute, warum die Menschen mit derart großer Inbrunst vor allem ihr eigenes Ebenbild ablichten – und das öfter, als sie sich zum Beispiel die Zähne putzen oder unter den Achseln waschen –, so antworte ich: Weil es ihnen eine Evidenz verschafft, die sie anders nicht zu erlangen vermöchten!

Kein Helnwein, kein Hermann Nitsch verstünde zu malen, wie ein neoliberaler Durchschnittsbürger mit der Tiefe seiner Fassungskraft empfindet. Wohingegen ein hübsches Selfie recht gut die menschliche Tag- und Nachtbleiche abbildet.

Somit hält ein digitaler Schnellschuss nur so lange vor, bis er vom nächsten abgelöst wird. Der Hinweis, bitte recht freundlich dreinzublicken, macht insofern keinen Sinn. Die ewige Gegenwart kommt sehr gut ohne Vorspiegelung von Freundlichkeit aus. Auch erscheint jetzt kein Vogerl mehr, wenn es blitzt. Hunderttausende Ornithologen, alle in meinem Alter (50+), sind darob fassungslos. (Ronald Pohl, 15.8.2018)