London – Möge man für andere Sehenswürdigkeiten saftige Eintrittspreise verlangen, mögen die Spezialausstellungen gelegentlich nicht ganz billig sein – die Sammlungen der staatlichen Museen Londons bleiben auch in Zeiten von Sparprogrammen und Brexit-Unsicherheit kostenlos zugänglich. Millionen einheimischer und ausländischer Besucher machen jährlich davon Gebrauch, in diesen Sommerwochen wimmeln National Gallery, British Museum und die beiden Tate-Häuser von Touristen von allen Kontinenten.

Es grüßt der "Dichter Theodor Däubler": Das Porträt von Heinrich Davringhausen zeigt den Schriftsteller und Lyriker, der ab 1910 die Literaten des aufkommenden Expressionismus zu begeistern wusste.
Foto: Tate Photography 2017

Im Schatten einer vielgerühmten, noch bis Anfang September geöffneten Picasso-Schau (umgerechnet 24,80 Euro Eintritt) hat die Tate Modern Ende Juli ohne großes Aufsehens eine kostenlose Ausstellung eröffnet, die es in sich hat: Magischer Realismus – Kunst der Weimarer Republik versammelt rund 70 Werke von 31 Künstlern und lediglich drei Künstlerinnen, darunter George Grosz, Jeanne Mammen und Conrad Felixmüller. Leihgeber ist überwiegend der griechische Reederei-Milliardär George Economou, Aufsichtsratsmitglied der Tate-Stiftung.

George Grosz: "A Married Couple",
1930
Foto: The George Economou Collection © Estate of George Grosz, Princeton, N.J. 2018.

Präzision und Verzerrung

Magischer Realismus – das dürfte bei vielen zunächst Assoziationen mit Gabriel García Márquez, Isabel Allende und der lateinamerikanischen Literatur des ausgehenden 20. Jahrhunderts wecken. Kunsthistoriker Franz Roh aber prägte den Begriff schon in den frühen 1920ern als Beschreibung eines neuen Trends: weg vom Idealismus der Vorkriegszeit hin zu einer einerseits sehr präzisen Beobachtung des Alltags ("Neue Sachlichkeit"), andererseits seiner satirischen Verzerrung, inklusive grotesker und unheimlicher Anblicke.

Nicht zuletzt ging es um die Verarbeitung der Erlebnisse an der Front bei all jenen wie Carl Grossberg, Max Beckmann und Albert Birkle, die den Krieg hautnah miterlebt hatten.

Den ersten Saal dominiert eine Vitrine mit Zeichnungen von Otto Dix. Zu sehen sind diesmal aber nicht, wie 2017 in Portraying a Nation: Germany 1919-1933 in der Tate Liverpool, seine schrecklichen Erlebnissen im Schützengraben, sondern Szenen aus dem Zirkus. Dessen Welt aus Fantasie, Nervenkitzel und Glamour identifizieren die Kuratoren ebenso als wichtigen Topos wie das Kabarett, dessen schrille, gewagte Sozialkritik die Zeit widerspiegelte.

Albert Birkle: "The Acrobat Schulz V", 1921
Foto: The George Economou Collection © DACS, London 201

Albert Birkles Jugendwerk Der Akrobat Schulz V (1921) beispielsweise zeigt einen grimassierenden Mann mit tiefen Gesichtsfurchen und fliegendem Haar. Steht er kurz vor einem Sturz? Symbolisiert er die zerschlagene, wankende Nation? Ausführlich gehen die Erläuterungen der Ausstellung auf wichtige Ereignisse jener 14 Jahre der Weimarer Republik ein. Ein wenig Nachhilfe kann natürlich nie schaden angesichts der verheerenden Geschichtslücken, mit denen die staatlichen Schulen auf der Insel junge Leute ins Leben entlassen. Allerdings gehört ausgerechnet Weimar und vor allem die darauffolgende Nazi-Barbarei noch am ehesten zu den wenigen Schwerpunkten, die den Pennälern ein ums andere Mal eingebimst werden.


Jeanne Mammen: "Brüderstrasse (Free Room)", 1930
Foto: The George Economou Collection © DACS, 2018

Warnung vor Erschütterndem

Anders als letzten Sommer in der Tate Liverpool erkannten die englischen Kritiker dieses Mal keine Parallelen zwischen dem zerrissenen Brexit-Land und der Weimarer Republik. Hervorgehoben wird vielmehr, etwa im Guardian, die "noch immer schockierende" Zurschaustellung von Lasterhaftigkeit und Verkommenheit, beispielsweise in Otto Dix' Lustmord (1922) oder Rudolf Schlichters Der Künstler mit zwei erhängten Frauen (1924). Vor diesen beiden Arbeiten warnen die Ausstellungsmacher die sensiblen Betrachter des 21. Jahrhunderts sogar ausdrücklich: "Manche Besucher könnten sie erschütternd finden", heißt es in wunderbar englischem Understatement, was den Telegraph zu dem beißenden Kommentar verleitet: "Manche Besucher? Wer davon nicht erschüttert ist, gehört eingesperrt." Von "Bildern, die kälter sind als ein Berliner Winter", schreibt das Stadtmagazin TimeOut.

Conrad Felixmüller: "Der Bettler von Prachatice", 1924
Foto: The George Economou Collection © DACS, 2018

Tatsächlich taugt Magischer Realismus nicht für jene, die von Kunst hübsche Ästhetik erwarten. Zu besichtigen ist vielmehr die Zerrissenheit jener aufregenden, chaotischen Jahre, widergespiegelt in den Werken mancher Wieder- und Neuentdeckungen neben den großen Namen Dix, Grosz und Beckmann. (Sebastian Borger aus London, 16.8.2018)