Die Türkische Kulturgemeinde in Österreich möchte ein Kopftuchverbot bis zur Religionsmündigkeit mit 14 Jahren.

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"Moral, Verstand, Vernunft und Ethik sind laut koranischem Islam viel wichtiger als äußerliche Zeichen", sagt Birol Kilic von der Türkischen Kulturgemeinde.

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In Österreich leben rund 300.000 Menschen türkischer Abstammung, davon besitzen rund 200.000 die österreichische Staatsbürgerschaft. Die Türkische Kulturgemeinde in Österreich (TKG) versteht sich als "den pluralistischen, freiheitlichen, demokratischen und rechtsstaatlichen Prinzipien verpflichteter Verein". Obmann Birol Kilic erklärt, warum es für ihn, einen gläubigen Muslim, und die säkular orientierten Mitglieder der TKG "selbstverständlich ist, dass unsere Kinder im Kindergarten keine politischen oder religiösen Zeichen tragen".

STANDARD: ÖVP und FPÖ möchten für Kindergärten und Volksschulen ein Kopftuchverbot einführen. Sie fordern das schon lange. Warum?

Kilic: Wir sind dafür, nicht weil die Regierung das plant, sondern weil wir wissen und seit über 20 Jahren davor warnen, dass manche Schulen und Vereine als verlängerte Arme politischer Parteien aus dem Ausland hier in Österreich Fuß gefasst haben. Unser Wunsch ist jedoch weitreichender: Wir möchten zumindest ein Kopftuchverbot im gesamten Pflichtschulbereich bis zum Erreichen der Religionsmündigkeit mit 14 Jahren. Allerdings sollte im Gesetz nicht das Wort Kopftuch vorkommen, sondern Kopfbedeckungen aller Art, damit das verfassungsrechtlich nicht angreifbar ist, weil es für alle Kinder ohne Ausnahme gelten sollte.

STANDARD: Sollte das Kopftuchverbot auch für Kindergartenpädagoginnen und Lehrerinnen gelten?

Kilic: Wir möchten uns in Angelegenheiten der Erwachsenen bezüglich Kleidung nicht einmischen. Wir würden uns aber wünschen, dass Kindergartenpädagoginnen und Lehrerinnen im Sinne des Neutralitätsgebots des Staates auch keine religiösen Zeichen tragen, weil die Kinder sie als Vorbild sehen und dadurch in ihrer Entfaltung und Entwicklung beeinflusst werden.

STANDARD: Welche Reaktionen zu einem etwaigen Kopftuchverbot für Kinder bekommen Sie eigentlich von muslimischen Familien?

Kilic: Wir haben etwa 1200 Mitglieder, darunter auch gläubige Menschen wie mich, einen überzeugten säkularen Muslim. Viele Menschen in Österreich verstehen unter säkularen Menschen, dass sie nichts mit Religion zu tun haben. Wir verstehen unter säkular, dass der Staat im öffentlichen Bereich laut Neutralitätsgebot religiöse Zeichen und Bekleidung allgemein untersagt und insbesondere Staats- und Religionsangelegenheiten strikt voneinander trennt. Privat sollte jeder seinen Glauben leben dürfen. Ich weiß, dass das Kinderkopftuch in der türkischen Gemeinde mit wenigen Ausnahmen kein Thema ist. Es ist selbstverständlich, dass unsere Kinder im Kindergarten keine politischen und religiösen Zeichen tragen. So sind wir groß geworden.

STANDARD: Wie meinen Sie das?

Kilic: Ab 1937, als der Laizismus als Staatsprinzip in die türkische Verfassung aufgenommen wurde, galt dort ein Kopftuchverbot bis zum Ende des Gymnasiums, also bis 18. 2014 hat die Regierung in Ankara ein neues Gesetz erlassen, das das Kopftuch bereits nach der Volksschule mit zehn Jahren erlaubt. Durch solche Gesetze wurde und wird die laizistische Republik Türkei sukzessiv ausgehöhlt. Österreich sollte aus dieser Erfahrung Rückschlüsse ziehen. Dieser politisierte Glaube wurde in Österreich über hier ansässige Vereine, die als Religionsgemeinschaft anerkannt und eigentlich verlängerte Arme politischer Parteien aus der Türkei sind, hierhergebracht. Die Türkei als einmal stark säkulare Republik wurde mit religiösen Gesetzen infiltriert. Eine politisierte Glaubensideologie wurde in Gesetze gegossen. Ich bin Österreicher. Ich respektiere die Entscheidungen in der Türkei, obwohl sie mir absolut nicht gefallen, aber in Österreich möchte ich meine Erfahrungen zum Ausdruck bringen und als wehrhafter Demokrat Einspruch erheben.

STANDARD: In welcher Form?

Kilic: Unsere Religion fordert Verstand, Vernunft und Anpassung an die Sittengesetze. Das will man alles vergessen und das Gesetz der Theologie darüber stellen. Das kann nur schlecht ausgehen.

STANDARD: Sie leben seit über 30 Jahren in Österreich bzw. davor in der Schweiz und in Deutschland. Viele Menschen haben den Eindruck, dass sie immer mehr Kopftücher, auch an kleinen Mädchen, in der Öffentlichkeit sehen. Wie beobachten Sie das über die Jahre?

Kilic: Jene türkischen Frauen, die in den 60ern nach Europa gekommen sind, waren auch gläubige Musliminnen und haben privat Ramadan gefeiert, aber sie haben kein Kopftuch getragen. Sie haben sich an die Zeit angepasst. Ab 1980/1990 hat ein Prozess begonnen, dass die Frauen keine normale Kopfbedeckung mehr wie noch meine Großmutter oder Mutter tragen, oder wie es auch in Österreich bei Frauen üblich war, sondern jetzt ist da eine Unterbedeckung, noch eine Kopfbedeckung, ein langer Mantel, Hidschab usw. An dieser Bedeckungsart sieht man, dass das aus dem politisierten Glauben resultiert, den die Vereine, die in der Türkei gegen die säkulare Verfassung gekämpft haben und verboten wurden, hierhergebracht haben. Genau die bekommen in Österreich und Deutschland als Religionsgemeinschaften durch den Staat besondere Unterstützung und Anerkennung, obwohl wir seit langem davor warnen. Sie versuchen das, was sie in der Türkei gemacht haben, auch hier umzusetzen. Es beginnt mit türkischem Fernsehen und angeblichen türkischen Moscheen, die keine Moscheen sind, sondern politische Ideologie- und Parteizentren. Damit machen sie zuerst Druck auf Männer, dann auf Frauen und dann auf Kinder.

STANDARD: Sie interpretieren die Zunahme der Kopftücher also nicht als Schub an Religiosität, sondern als Folge politischer Einflüsse?

Kilic: Hundertprozentig politische Instrumentalisierung des Glaubens. Die Kopftücher sind mehr geworden, weil es politisch organisiert ist. Es ist sicher kein Zeichen für eine angeblich gescheiterte Integration. Die Mehrheit der Türken in Österreich ist integriert, aber diese Menschen erkennen Sie auf der Straße nicht als Türkinnen, weil viele das Bild im Kopf haben, das auch die Medien, ab und zu auch der STANDARD, oft abbilden: vorn der Mann, dahinter die Frau mit Kopftuch. Wenn ich auf der Straße gehe, höre ich viel Türkisch. Diese Menschen sind modern, zivilisiert und auch gläubig. Diese Gruppe wird von den politisierten Religionsvereinen nicht vertreten. Diese Vereine wollen sich und die Muslime immer als Opfer sehen und pochen auf Religionsfreiheit. Aber wenn sie an die Macht kämen, würden sie zuerst die Leute unterdrücken, die sie unterstützt haben, besonders unsere linken Freunde. Dabei bietet Österreich so viel, um Erfolg zu haben.

STANDARD: Der Präsident der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGÖ), Ibrahim Olgun, sagte, es sei "sehr bedauerlich, dass die Politik versucht, sich in unsere Angelegenheiten einzumischen". Ist die Kopftuchfrage nur eine innerislamische Angelegenheit der IGGÖ oder der Musliminnen und Muslime in Österreich?

Kilic: Nein, auch die IGGÖ ist dem österreichischen Staatsgrundgesetz unterworfen. Artikel 15 besagt, dass jede Religionsgemeinschaft wie jede Gemeinschaft den allgemeinen Staatsgesetzen unterworfen ist. Demnach hat jedes Kind Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge, die für sein Wohlergehen notwendig sind, auf bestmögliche Entwicklung und Entfaltung. Ein Kopftuch widerspricht dem. Das Kind kann sich nicht entfalten und wird von der Gesellschaft ausgeschlossen. Einige bezwecken das vielleicht, damit die Kinder keinen Kontakt mit anderen haben sollen. Aber das Wohl des Kindes ist vorrangig. Es geht um unsere Kinder, die kein Kopftuch tragen, sie fühlen sich dann diskriminiert von den Kindern, die eines tragen, wenn sie gesagt bekommen, du bist kein guter Muslim, weil du kein Kopftuch trägst. Moral, Verstand, Vernunft und Ethik sind laut koranischem Islam viel wichtiger als äußerliche Zeichen.

STANDARD: Der wichtigste offizielle Ansprechpartner für die Politik ist die IGGÖ. Fühlen Sie sich als Muslim von ihr und Olgun vertreten?

Kilic: Nein. Mit Verlaub, Herr Olgun ist nicht mein Präsident. Im Islam gibt es keinen Papst, kein Priestertum, keinen Klerus oder sonst eine Instanz zwischen Gott und Mensch, das ist laut Koran wegen Beigesellung bzw. als Götzendienst (arabisch Schirk) strengstens verboten. Die IGGÖ hat keine Mitglieder, nur die Vereine, die sehr politisch gefärbt sind und ihre Vertreter in der IGGÖ wählen. Im Melderegister ist die Religion auch nicht mehr eingetragen, daraus lässt sich also auch kein Vertretungsanspruch ableiten, und in den offiziellen Glaubensregeln der IGGÖ steht nichts vom Kopftuch. Wir brauchen keine Vertreter, besonders nicht solche, die den Islam und Muslime in ein so schlechtes Licht rücken, etwa durch das Leugnen der Evolutionstheorie. (Lisa Nimmervoll, 16.8.2018)