Beidaihe ist im Sommer das Zentrum der Politführung Chinas.

Johnny Erling

Wo früher der Große Vorsitzende Mao Tse-tung planschte, ...

Johnny Erling

... mauschelt heute Xi Jinping mit seinem Politbüro.

Johnny Erling

Immer zur vollen Stunde ertönt das Glockenspiel Dongfang Hong (Der Osten ist Rot) vom Telekomgebäude in Beidaihe. Die kulturrevolutionäre Melodie ist im Prominentenbadeort der Pekinger Parteiführung am Gelben Meer wieder in, auch wenn das Lied niemand mehr mitsingt. Seine zweite Zeile lautet: "Die Sonne geht auf – so wie auch Mao Tse-tung über China."

Es ist eine nostalgische Erinnerung. An den Stränden der 270 Kilometer von Peking entfernten Sommerhauptstadt brütete der Große Vorsitzende immer im Juli und August viele gescheiterte Utopien aus. Pekings heutiger Stern am Polithimmel, Parteichef Xi Jinping, kommt auch jeden August für zwei Wochen mit seinem Politbüro hierher. Anders als Mao, der öffentlichkeitswirksam im Meer geschwommen ist, bekommt kein Außenstehender Xi zu sehen.

Beidaihe dient den Parteimächtigen aber nicht nur zur Erholung, sondern auch zu informellen Mauscheleien über Chinas Zukunft. Dieses Jahr, kurz vor dem drohenden Handelskrieg mit den USA, ist das besonders wichtig. Während Chinas höchste Funktionäre ihre Villen beziehen, hat der Badeort seine Sicherheitsmaßnahmen extrem verschärft. Alle Privatautos, die in das 80.000-Einwohner-Städtchen mit der größten Dichte an Videokameras in China einfahren, müssen eine neue Kontrollstation passieren.

Neue TV-Stars

Trotz aller Geheimniskrämerei hielt sich auch dieses Jahr die KP-Spitze an ihre Tradition, zumindest einmal vor die Öffentlichkeit zu treten. Am 4. August begrüßten die Politbüromitglieder und Vizepremier Hu Chunhua "im Namen von Parteichef Xi" eine Gruppe hochrangiger Wissenschafter. Überraschend traten am 9. August auch Premier Li Keqiang und Außenminister Wang Yi im Fernsehen auf. Anlass war der Chinabesuch von María Fernanda Espinosa Garcés aus Ecuador, die jüngst zur Vorsitzenden der UN-Vollversammlung in New York gewählt wurde. Der Premier sagte ihr, dass unter der "derzeitigen internationalen Lage eine multilateral bestimmte Weltordnung wichtiger denn je ist". Er rief zum Schutz der UN-Charta und der Welthandelsorganisation sowie zur "Verbesserung des Freihandelssystems" auf.

Peking plant also, Verbündete in der Uno gegen die Politik von US-Präsident Donald Trump zu gewinnen. So dringlich ist das Anliegen, dass Li die UN-Vertreterin nach Beidaihe kutschieren ließ. Zugleich wurde ihr Treffen auch zur Aufwertung für den Premier, der immer mehr Zuständigkeiten an Parteichef Xi abtreten musste.

Der "Kern der Partei" wirkt nicht nach außen

Dieser zeigte sich seit 1. August nicht öffentlich – was zu Spekulationen geführt hat. Sein Stern glänzt ohnehin nicht mehr so hell wie noch im März. Da ließ er sein "Xi-Jinping-Denken" in die Verfassung schreiben und sich die Option garantieren, auf Lebenszeit regieren zu können, auch hebelte er als "Kern der Partei" die kollektive Führung aus.

Im Juli endete der um Xi entfachte groteske Personenkult plötzlich. Dahinter steckte ein Beschluss der Parteispitze, wobei offen blieb, ob Xi das so wollte. Die Volkszeitung druckt seit dem 9. Juli nicht mehr täglich seine Fotos auf der Titelseite. In Peking wurden die Stadtteile angewiesen, Mitte Juli alle Porträts von Xi zu entfernen.

Auch Beidaihe hat seine einst Hunderte von Propagandaplakaten stark ausgedünnt. Dafür wurden zwei Dutzend neue Schilder mit neutralen Parolen in die Blumenbeete gerammt. Sie plädieren für "eine multilaterale Weltordnung, für Freihandel und eine offene Weltwirtschaft".

USA üben Druck aus

Die bescheideneren Töne sind vom drohenden Handelskrieg mit den USA erzwungen. So überschattet nur einer die politische Badesaison in Beidaihe – Donald Trump. Am 1. August drohte er, seine geplanten Zölle auf Chinaimporte im Wert von 200 Milliarden Dollar noch zu verschärfen. Kurz darauf setzte das US-Handelsministerium den Beginn der zweiten Strafzollrunde gegen China auf das Datum 23. August fest.

In Chinas Propaganda hat seither ein Umdenken eingesetzt. Du Wanhua, Berater des Obersten Volksgerichts, warnte vor einer Pleitewelle chinesischer Exportfirmen, wenn Trump Ernst macht. Pekings Führung muss sich auch mit einer plötzlichen Welle öffentlicher Kritik auseinandersetzen.

Ohne den Parteichef zu nennen, kritisierte etwa Xu Zhangrun, ein Jurist der Tsinghua-Universität im Juli Xis Alleinherrschaft und die Reideologisierung der Gesellschaft. Die Abschaffung seiner Amtszeitbegrenzung habe die "Welt schockiert". Unter Chinesen löste dies die Sorge aus, "dass ihr Land wieder zu Maos furchterregenden Zeiten zurückkehrt".

Welche Schlüsse Peking aus der Debatte zieht und wie weit Xi zum Kurswechsel bereit ist, wird sich nach dem Ende der Sommerpause in Beidaihe zeigen. (Johnny Erling aus Peking, 16.8.2018)