Hans-Georg Eichler ist seit zehn Jahren Senior Medical Officer bei der EMA.

Illustration: Ana Popescu

STANDARD: Die EMA übersiedelt 2019 von London nach Amsterdam. Bedauern Sie, dass die Wahl nicht auf Wien fiel?

Hans-Georg Eichler: Persönlich ja, aber für die EMA ist Amsterdam sehr attraktiv. Wichtig war, dass möglichst viele Mitarbeiter mitgehen. Der Standort muss auch für die zahlreichen Mitglieder der monatlich stattfindenden Ausschüsse gut erreichbar sein.

STANDARD: Was bringt der Brexit sonst noch für die EMA?

Eichler: Großbritannien war ein sehr aktiver Partner in der EMA, dessen Beitrag von anderen kompensiert werden muss. Einige Aufgaben werden künftig nationale Zulassungsbehörden etwa in Bonn, Wien oder Uppsala übernehmen.

STANDARD: Die EMA entscheidet darüber, ob Medikamente in der EU verkauft werden dürfen. Wie viele Zulassungen gibt es pro Jahr?

Eichler: Im Vorjahr gab es 92 positive Zulassungen, davon waren 35 wirklich neue Substanzen.

STANDARD: Welche Aufgaben hat die EMA sonst noch?

Eichler: Wir verfolgen einen Lifespan-Approach. Das heißt: Bereits vor der Zulassung beraten wir Firmen bei der Durchführung der Studien. Auch wenn das Medikament dann auf dem Markt ist, sammeln wir Daten über die Sicherheit und Wirksamkeit des Arzneimittels. Es gibt eine Vielzahl von Fragen, die am Tag der Zulassung noch nicht gelöst ist.

STANDARD: Immer häufiger werden Arzneimittel in beschleunigten Verfahren zugelassen. Werden sie weniger streng geprüft?

Eichler: Die beschleunigten Verfahren haben ihren Ursprung in den 1980er-Jahren, als die HIV-Patienten auf die Barrikaden gingen, um die raschere Zulassung von erfolgversprechenden Substanzen zu erwirken. Bei manchen Erkrankungen bedeutet Zeit wirklich Leben.

STANDARD: Kann das nicht auch gefährlich sein?

Eichler: Der Gesetzgeber hat verschiedene Formen von Rapid Pathways vorgesehen. Dafür muss man einen überwiegenden Nutzen für die öffentliche Gesundheit nachweisen, nach der Zulassung fordern wir weitere Studien zur Sicherheit und Wirksamkeit ein.

STANDARD: Darunter waren Krebsmedikamente, die auch Jahre später keine "harten" Outcomes wie Lebensverlängerung vorweisen konnten.

Eichler: Natürlich wäre der ideale Zielparameter jeder Krebstherapie das Gesamtüberleben. Aber manchmal ist es praktisch nicht möglich oder ethisch nicht vertretbar, das in Studien zu erheben. Darum akzeptieren wir auch andere Parameter wie etwa "progressionsfreies Überleben ", also die Zeitspanne bis zum Fortschreiten der Erkrankung. Das kritisieren manche. Wir führen bei der EMA dazu auch intensive wissenschaftliche Diskussionen.

STANDARD: Bislang galten randomisierte kontrollierte Studien (RCT) als Goldstandard bei der Zulassung. Ändert sich das gerade?

Eichler: RCTs sind sicher nicht obsolet. Manchmal ist es aber schwierig, solche Studien zu machen, etwa bei lebensbedrohlichen oder sehr komplexen Erkrankungen. Hier versuchen wir, die Ergebnisse mit andere Informationen aus der Behandlungspraxis – sogenannten Real-World-Daten – zu ergänzen. Dabei gibt es viele offene rechtliche und ethische Fragen. Aber wir gehen davon aus, dass diese Daten einen Nutzen bringen.

STANDARD: Welche Rolle spielen Fragen der Lebensqualität?

Eichler: Diese Parameter sind in der Regel sehr schwierig zu messen. Aber dort, wo es möglich ist – ich denke etwa an neurologische Erkrankungen – berücksichtigen wir sie.

STANDARD: Dürfen Patienten bei der EMA mitreden?

Eichler: Ja, in nahezu allen Komitees der EMA. Zu einzelnen Produkten gibt es auch spezielle Hearings. Unser Ziel ist es, die Mitbestimmung noch strukturierter zu machen. Denn Patienten – auch solche mit derselben Erkrankung – haben oft unterschiedliche Präferenzen und Meinungen.

STANDARD: Haben Sie Sorge, dass Patientengruppen von Pharmafirmen instrumentalisiert werden?

Eichler: Wir versuchen, das mit unserer Conflict of Interest Policy zu verhindern. Patientenorganisationen, die bei uns mitarbeiten, müssen alle Geldquellen offenlegen. Wir lehnen jene ab, bei denen finanzielle Abhängigkeiten bestehen.

STANDARD: Apropos Abhängigkeit. Die EMA wird zu mehr als 85 Prozent von den Firmen finanziert, die Anträge stellen. Wie unabhängig können Sie sein?

Eichler: Die Art der Finanzierung war eine Entscheidung des Gesetzgebers und trifft auf alle Agenturen weltweit zu. Es ist ähnlich wie beim Führerschein – dort bezahlt man auch für die Prüfung und nicht für das Bestehen. Ein Vorteil von Europa ist auch, dass wir ein "Vielaugenprinzip" haben: Da passen viele auf.

STANDARD: Gibt es Synergien mit der US-Zulassungsbehörde FDA?

Eichler: Seit 2003 gibt es einen regelmäßigen und intensiven Austausch, vor allem bei der Entwicklung von Orphan-Drugs und von Arzneimitteln für Kinder. (Andrea Fried, CURE, 11.10.2018)