Sheila Cunningham: "Die meisten sehen die Welt ganz anders, wenn sie zurückkommen. Offenheit ist wichtig."

Illustration: Ana Popescu

STANDARD: Was ist European Nursing?

Sheila Cunningham: Ein Programm, das europäischen Austausch forciert. Wir haben Partneruniversitäten in Finnland, Italien, Malta und Dänemark. Dort verbringen unsere Studierenden sechs Monate. Auch Praktika in ausländischen Kliniken sind vorgesehen. Dadurch soll den jungen Leuten einerseits klar werden, was es bedeutet, Europäer oder Europäerin zu sein. Andererseits dient der Aufenthalt dazu, andere Gesundheitssysteme kennenzulernen, herauszufinden, wie Krankenpflege anderswo organisiert wird.

STANDARD: Was sind die größten Unterschiede?

Cunningham: Einer der bedeutendsten liegt in der Arbeitsweise. In Finnland beispielsweise kommen schon viel stärker Technologien zum Einsatz. Die Krankenpfleger überwachen das Wohl der Patienten mittels Telemetrie über Sensoren und einen Computerbildschirm. Außerdem wird mit Robotern als Pflegeunterstützung experimentiert. In Großbritannien haben wir immer noch viel physischen Kontakt mit den Patienten. Aber auch die Verantwortlichkeiten sind unterschiedlich. Kollegen in Malta sind, anders als wir, nicht für das Waschen der Patienten zuständig, das machen Assistenten. In einigen Ländern – etwa Großbritannien, den USA und Australien – können sie sehr autonom arbeiten. In anderen – wie Spanien, Malta, Italien – haben noch sehr stark die Ärzte das Sagen.

STANDARD: Gibt es Unterschiede im Ansehen des Berufsstandes?

Cunningham: Absolut. In den nordischen Ländern hat der Beruf in der Gesellschaft einen wirklich hohen Stellenwert. Krankenpfleger übernehmen dort Managementfunktionen, betreiben Forschung. Das motiviert Studierende sehr. Wenn sie zurückkommen, beschäftigen sie sich in ihren Abschlussarbeiten auf theoretischer Ebene mit Krankenpflege. Eine Studentin hat etwa untersucht, welchen Einfluss Ernährung auf das Wohlbefinden älterer Menschen hat. Auch das Gehalt variiert. Manche meiner Kollegen verdienen ganz gut, andere, etwa in Spanien oder Portugal, haben große Probleme, überhaupt einen Job zu finden.

STANDARD: Ein großes europaweites Problem in der Pflege ist die Drop-out-Quote. Viele hören auf. Warum?

Cunningham: Es hat mit dem Mangel an Pflegekräften zu tun. Weil es zu wenig Personal gibt, ist die Arbeitsbelastung für die, die arbeiten, extrem hoch. Das bringt großen Stress mit sich. Ich glaube, dass mehr Flexibilität bis zu einem gewissen Grad helfen kann. Meine Kollegen in Spanien oder in nordischen Ländern können sich ihre Arbeitszeit frei einteilen. Das verbessert die Work-Life-Balance und so die Zufriedenheit im Job. Ich denke aber, dass Arbeitsbedingungen eher nach Arbeitgebern als nach Nationen variieren.

STANDARD: Zurück zum Studium: Die Absolventen erhalten keine Arbeitserlaubnis für ein anderes Land. Was bringt ihnen die Zeit im Ausland für ihren Arbeitsalltag in Großbritannien?

Cunningham: Sie lernen andere Sprachen, und ihre interkulturelle Kompetenz wird gefördert. Bei uns in London ist die Bevölkerung sehr divers. Im Krankenhaus ist man täglich mit Menschen unterschiedlichster Herkunft konfrontiert. Ein Studierender hat mir einmal erzählt, dass ihn die Auslandserfahrung insofern weiterbrachte, als dass er sich zum ersten Mal im Leben wie ein Ausländer gefühlt hat, und dass er erst nach dieser Erfahrung überhaupt verstanden hat, wie das ist.

STANDARD: Welche Grundvoraussetzung müssen Pflegekräfte mitbringen?

Cunningham: Empathie und Widerstandsfähigkeit auf jeden Fall. Ich bin in engem Kontakt mit unseren Studierenden, während sie im Ausland sind. Sie berichten mir auf Blogs von ihren Herausforderungen. Manche haben komische Nachbarn, andere plagt das Heimweh. In einer fremden Stadt eine Wohnung mieten, sich in einer anderen Sprache verständigen, Freunde finden: Das alles erweitert den Horizont – die meisten sehen die Welt ganz anders, wenn sie zurückkommen. Offenheit und Anpassungsfähigkeit sind wichtige Eigenschaften in einer Gesellschaft, in der sich so vieles so schnell verändert.

STANDARD: Inwiefern genau?

Cunningham: Die Menschen werden immer älter, die Migration nimmt zu. Darauf muss sich auch die Krankenpflege einstellen. Wir brauchen mehr Know-how, was das Alter unserer Patienten und damit verbundene Gebrechen angeht. Wir werden uns künftig auch noch viel stärker als bisher mit dem Faktor Kultur auseinandersetzen. Gesundheit hat viele kulturelle Aspekte, die es zu berücksichtigen gilt. So wie die Medizin selbst wird auch die Pflege immer personalisierter. Es geht nicht mehr um simple Kategorien wie Kind, Frau oder Mann, sondern um einen individuellen Zugang. Jeder Mensch hat unterschiedliche Bedürfnisse. Unsere Studierenden haben das bereits erkannt und engagieren sich, neue Konzepte zu entwickeln. Sie lassen Althergebrachtes nicht mehr unhinterfragt gelten. Ihre Auslandserfahrung hat sie motiviert, über den Tellerrand hinaus zu blicken. (Lisa Breit, CURE, 15.12.2018)