Durch die Landwirtschaft entsteht ein Überangebot von Stickstoff im Boden, was eine Reihe schädlicher Nebenwirkungen mit sich bringt.

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"Die Erde ist überformt von Aktivitäten, um die Weltbevölkerung zu ernähren", sagt Wilfried Winiwarter.

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Der Mensch ist einer der größten Einflussgeber des globalen Ökosystems, deswegen schlagen Wissenschafter vor, das gegenwärtige Erdzeitalter Anthropozän zu nennen. Oft steht der Klimawandel, der massiv in den Kohlenstoffkreislauf der Erde eingreift, im Zentrum des Begriffs. Doch der Einfluss des Menschen geht viel weiter. Die Notwendigkeit, eine wachsende Weltbevölkerung zu ernähren, hat zu einem fundamentalen Eingriff in den Stickstoffkreislauf geführt, der die Grundlage für jegliches Leben auf der Erde ist. In kaum einem anderen Bereich hat der Mensch derart stark in natürliche Zusammenhänge eingegriffen, sagt Wilfried Winiwarter, Systemanalytiker am International Institute for Applied Systems Analysis (IIASA).

STANDARD: Wie bestimmt der Stickstoffkreislauf das Leben auf der Erde?

Winiwarter: Obwohl 78 Prozent der Atmosphäre aus Stickstoff bestehen, ist er eine Mangelsubstanz bei natürlichen Lebensprozessen und beeinflusst damit den Wettbewerb zwischen Lebewesen. Er ist Teil von Proteinen und wichtiger Bestandteil der Zellbiologie. Der wesentliche Mechanismus beim Stickstoffkreislauf ist die Fixierung des Luftstickstoffs in eine gebundene Form, die von Pflanzen und Tieren aufgenommen werden kann. Für diesen Prozess ist eine große Menge chemischer Energie notwendig. Im natürlichen Stickstoffkreislauf wird die Umwandlung von Mikroorganismen erledigt, aber auch durch Blitzschlag wird Luftstickstoff gebunden.

STANDARD: Wie greift der Mensch ein?

Winiwarter: Weil man durch Stickstoff das Wachstum von Pflanzen regulieren kann, ist er für die Ernährung der Menschen von hervorragender Bedeutung. Man hat schon früh versucht, die Fruchtbarkeit von Feldern zu erhöhen – durch Aufbringen von Naturdünger in Form von Tierexkrementen, die Stickstoff enthalten, oder durch Anbau bestimmter Pflanzen – etwa Bohnen oder Erbsen. Später hat man entdeckt, das gewisse Pflanzen, etwa Bohnen oder Erbsen, mithilfe symbiotischer Bakterien zusätzlichen Stickstoff fixieren und bereitstellen können. Die Entwicklung des 1908 patentierten Haber-Bosch-Verfahrens, eines der bedeutendsten Prozesse der chemischen Industrie, erlaubt es, Ammoniak aus Wasserstoff und Stickstoff herzustellen. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat man begonnen, auf diese Art im großen Stil Kunstdünger zu erzeugen. Der menschliche Einfluss auf den Stickstoffkreislauf ist höher als auf andere Kreisläufe des Ökosystems.

STANDARD: Wie hat das den Stickstoffhaushalt verändert?

Winiwarter: Derzeit werden in natürlichen Prozessen etwa 200 Teragramm – also 200 Millionen Tonnen – Stickstoff pro Jahr fixiert. Der Mensch hat diese Menge verdoppelt: 60 Teragramm davon stammen aus den Anbau von Pflanzen, die mit symbiotischen Bakterien Stickstoff umwandeln, etwa 30 entstehen durch Verbrennungsprozesse – man kennt Stickoxide als Begleiterscheinung von Hochtemperaturverbrennungsprozessen -, etwa in Dieselautos. Der große Rest resultiert aus der Düngemittelproduktion.

STANDARD: Welche konkreten Auswirkungen hat das?

Winiwarter: Um die Weltbevölkerung zu ernähren, brauchen wir Stickstoffdünger. Er wird aber im Überfluss angewendet. Man geht von einer globalen Nutzeffizienz von 40 Prozent aus: Weniger als die Hälfte des Stickstoffs in Düngemitteln wird von Pflanzen aufgenommen. Der größere Rest verursacht eine Reihe von schädlichen Nebenwirkungen: Stickstoff sorgt für unkontrolliertes Algenwachstum und kann zum Kippen von Gewässern führen. Er lässt Böden versauern und kontaminiert das Grundwasser. Bei den mikrobiellen Umwandlungsprozessen entsteht Lachgas, das als drittwichtigstes Treibhausgas den Klimawandel antreibt. Gleichzeitig treten Stickstoffverbindungen als Luftschadstoffe auf. Ammonsalze machen bei hohen Feinstaubkonzentrationen über 50 Prozent ihrer Masse aus. Verringert man Ammoniakemissionen, kann man die Belastung senken.

STANDARD: Wie groß ist der Einfluss auf das Erdökosystem?

Winiwarter: In der Debatte um "planetary boundaries", ökologische Belastungsgrenzen der Erde, gilt Stickstoff als Problem, das bereits jetzt die Grenzen eines nachhaltigen Lebensstils überschreitet. Er ist zurzeit also ein massiverer Eingriff als der Klimawandel. Künftig werden die Folgen aber weniger ansteigen als jene der Erderwärmung.

STANDARD: Stickstoff hilft beim Aufbau von Biomasse, die Kohlenstoff bindet. Hilft das Überangebot, den Klimawandel abzumildern?

Winiwarter: Das ist eine Diskussion, die geführt wird. Zusätzliche Stickstoffverfügbarkeit könnte Wälder im Nahbereich menschlicher Aktivität stärker wachsen lassen. Gleichzeitig lässt Stickstoff die Böden aber versauern, was das Waldwachstum ebenfalls beeinflusst. Für die Schweiz und Belgien wurde bereits nachgewiesen, dass das Waldwachstum durch Stickstoff limitiert wird. Diese Effekte machen einfache Darstellungen unmöglich. Eine zusätzliche Aufnahme von Kohlenstoff durch das Überangebot an Stickstoff kann also vermutet, aber nicht generell nachgewiesen werden.

STANDARD: Wie kann man den Stickstoffkreislauf nachhaltig gestalten?

Winiwarter: Wir haben im Anthropozän ein Großexperiment laufen: Die Welt ist überformt durch menschliche Aktivitäten, die wir brauchen, um die Bevölkerung ernähren zu können. Die Begleiteffekte sollen aber gering gehalten werden. Für die Wissenschaft ist wesentlich, die komplexen Wechselwirkungen herauszustreichen. Es sollen nicht Maßnahmen gegen die Luftverschmutzung vorgeschlagen werden, die ein Umlenken der Stickstoffströme ins Wasser bewirken. Das Argument, dass Stickstoff gut fürs Waldwachstum ist, soll nicht verhindern, dass wir uns um den Feinstaub sorgen.

STANDARD: Gibt es Spielraum beim Einsatz von Düngemitteln?

Winiwarter: Es gibt Ansätze, Stickstoff effizienter einzusetzen. Man entwickelt Düngemittel, die Auswaschungen und Lachgasbildung vermeiden und an den jeweiligen Boden oder an bestimmte Pflanzen gezielt angepasst werden. Dabei ist es wichtig zu sehen, dass die Landwirtschaft heute eine Industrie ist und kein Fortschreiben alter Traditionen. Die Technologien sind heute vollkommen andere. Für eine Industrie besteht die Verpflichtung, neben der Effizienzfrage auch die Umweltauswirkungen zu betrachten.

STANDARD: Sind die Probleme mit Technik lösbar, oder müssen wir auch den Lebensstil verändern?

Winiwarter: Durch die Produktion von tierischem anstelle von pflanzlichem Protein sinkt die Gesamteffizienz. Wir haben etwa versucht abzuschätzen, in welche Richtung die Lachgasemissionen bis 2050 gehen könnten. Dabei sehen wir, dass wir mit technischen Maßnahmen maximal eine Stabilisierung erreichen können. Wollen wir einen Rückgang der Emissionen, ist es sinnvoll, tierische Ernährung einzuschränken. (Alois Pumhösel, 17.8.2018)