Vermittelt ohne große Pose die große Macht der Tabus: Autor Daniel Wisser.

Heribert Corn

Die Diagnose multiple Sklerose ist heutzutage kein Todesurteil mehr. So etwas in der Art hat Robert Turin, die Hauptfigur in Daniel Wissers neuem Roman Königin der Berge womöglich zu hören bekommen, als er mit Ende zwanzig die Diagnose erhielt. Nun ist Turin Mitte vierzig. Er hat die sekundär progrediente Erscheinungsform, sein Zustand verschlechtert sich kontinuierlich. Seit Jahren lebt er im Heim, er ist auf Rollstuhl und Harnkatheter angewiesen und seit 15 Jahren impotent.

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Zwar muss er (noch) nicht sterben – aber er wünscht es sich. Die "Königin der Berge", wie er seine Krankheit nennt, hat ihn niedergestreckt, was er nun braucht, ist eine Frau. Eine nämlich, die ihn in die Schweiz fährt, damit er dort sterben kann. Denn er hat zwar von seiner bildschönen Frau Irene ein Tablet geschenkt bekommen, aber von Selbstmord will sie nichts hören. Und auch, wie Uber funktioniert, erschließt sich Herrn Turin bis zuletzt nicht.

Eine arme Sau, aber auch ein Schwein

Es wäre dies kein Roman von Daniel Wisser, würde er nicht ein paar Erwartungen und Konventionen unterlaufen. Dieses Buch ist vieles, ein todtrauriges über Krankheit und Sterben ist es nicht. Robert Turin ist trotz seines mitleiderregenden Schicksals auch nicht unbedingt ein Sympathieträger. Er ist eine arme Sau, ja. Er ist aber auch ein Schwein. Er säuft. Er greift den Frauen in seiner Umgebung gern an die Brust und schafft es, seine Frau auch als impotenter Rollstuhlfahrer noch zu betrügen. Und zwar so, dass es gar nicht mal erscheint wie Betrug. Man glaubt ihm das, dass er seine Frau liebt.

Er quält die Schwestern mit seiner schlechten Laune, erst recht die neuen, unsicheren. Und trotzdem kann man nachvollziehen, dass sie ihn mögen. Er hat im Leben Fehler gemacht, aber wer hat das nicht? Entspannt geht damit auch Turins lang verstorbener Kater Dukakis um, sein imaginärer Begleiter, der ihm, wie das böse Teufelchen auf der Schulter, Dinge einflüstert ("Du solltest jetzt endlich mutig genug sein und nach einer Brust greifen.").

Der Kater fasst es ganz nüchtern zusammen: "Ich mache Turin keinen Vorwurf, er ist kein schlechter Mensch. Er hat sich nur niemals Zeit genommen für die Menschen und Katzen, die ihm am nächsten waren. Und heute tut ihm das leid. Aber das ist nicht der Grund, warum er MS bekommen hat. Es gibt überhaupt keinen Grund, warum Herr Turin MS bekommen hat. Es gibt Ursachen dafür, aber keinen Grund. Das ist für die Menschen am schwierigsten zu verstehen."

Außerordentlich virtuos

Es wäre dies auch kein Roman von Daniel Wisser, würde er mit seinem Werkzeug, der Sprache, nicht außerordentlich virtuos umgehen. Damit ist nicht nur gemeint, dass man diesen Roman, der auf beinahe 400 Seiten von Siechtum, Krankheit und Tod, von deprimierenden (Arbeits-)Bedingungen in Pflegeheimen und der Grausamkeit erzählt, nicht mehr über sein eigenes Leben bestimmen zu können – sondern dass man diesen Roman gern liest und ihn zuschlägt mit der Gewissheit, dass das Leben schön und lebenswert ist.

Das muss man erst einmal schaffen. Er findet daneben aber auch eine sprachliche Form, die unaufgeregt und ohne große Pose zeigt, was sich in Worten niemals so eindringlich vermitteln ließe: die Macht der Tabus. Was nicht ausgesprochen werden darf, weil es niemand hören will oder keiner es sich sagen traut, ist durchgestrichen und manchmal auch hinter fetten schwarzen Balken verborgen. Das Wort Selbstmord zum Beispiel, das im Text kein einziges Mal lesbar auftaucht. Manchmal gibt es auch zwei alternative Textspalten: Das, was gesagt, und das, was (vermutlich) gedacht wird. Wisser lässt die Figuren wie in einem Drama sprechen, manchmal ist es auch nur das Kopfkino von Robert Turin.

Eigene Komik

So etwa bei einem misslungenen Selbstmordversuch: "HERR TURIN: Noch fünf Sekunden bis zum Aufprall. (...) IRENE TURIN: Mein Mann ist vor einem halben Jahr verstorben. Er hat sehr schwer an einer unheilbaren Krankheit gelitten und sich [die letzten drei Wörter sind geschwärzt]. (...) SCHWESTER ALIKI: Das Letzte, was er mich gefragt hat, war: Schwester Aliki, wie funktioniert das mit diesem Uber?"

Diese eingeschobenen Passagen entwickeln nicht nur oft eine ganz eigene Komik. Sie zeigen auch, wie fremdbestimmt Turin ist: Erst, als er es zuletzt wirklich in die Schweiz schafft, tritt er als ICH auf. Bis dahin ist er den ganzen Roman lang fast ausschließlich in der dritten Person vorgekommen. "Er ist nicht mehr Ich, sondern Er." Oft in schmerzhafter Diskrepanz: "Herr Turin bezahlt für das Heim Geld, viel Geld, und er bezahlt es, damit er tun kann, was er will."

Der Roman hält sich nicht groß auf mit der (oft verlogenen) Suche nach Lebensweisheit und Erkenntnis angesichts von Krankheit und Tod. Vieles wird wie nebenbei verhandelt, ohne den heiligen Ernst der Lebensoptimierung und deshalb um einiges klüger und wahrer. Das Leben ist nun einmal ein einziger Widerspruch: Turin lebt gern, und Turin will sterben. Er ist kein besonders guter Mensch, und er ist liebenswert. Das Leben ist grausam und ungerecht. Aber leben will man es trotzdem. (Andrea Heinz, 22.8.2018)