Wien – Mehr Armut, mehr Arbeitslose, eine höhere Staatsverschuldung, und schuld daran ist der Neoliberalismus. Der Ökonom Stephan Schulmeister zeichnet in seinem neuen Buch "Der Weg zur Prosperität" ein düsteres Bild. In diesem Werk hat Schulmeister seine Thesen aus vielen Jahrzehnten seiner wissenschaftlichen Arbeit zu einem einheitlichen Ganzen zusammengefasst.

STANDARD: Sind Sie nicht zu hart zum Neoliberalismus? Es gab doch große Wohlstandsgewinne in den vergangenen Jahrzehnten. Eine aktuelle Studie zeigt zum Beispiel, dass ein Arbeitnehmer in Deutschland im Schnitt drei Tage arbeiten muss, um sich einen Flachbildfernseher zu leisten. In den 60er-Jahren waren es 42 Arbeitstage für einen Schwarzweißfernseher.

Schulmeister: Das hat mit Kapitalismus und den ständigen Produktivitätsgewinnen zu tun, nicht mit Neoliberalismus. Durch den Fleiß von Ingenieuren und Technikern wurde die Innovation vorangetrieben. Dieser technische Fortschritt hat dafür gesorgt, dass Fernseher billiger geworden sind. Aber gleichzeitig ist die Zahl jener Menschen gestiegen, die davon nichts haben, weil sie arbeitslos sind oder nur noch prekäre Beschäftigung finden. Wir erleben also zwei Trends: einen technischen Fortschritt, dessen Möglichkeiten jedoch nicht voll ausgeschöpft werden.

STANDARD: Woran liegt das?

Schulmeister: Die Triebkraft des Kapitalismus, das weiß man seit dem Ökonomen Adam Smith, ist das Profitstreben. Das Profitstreben hat sich in den vergangenen Jahrzehnten mehr und mehr auf das Gebiet der Finanzspekulation verlagert. Wenn man sich das Investitionsverhalten der vergangenen 40 Jahre ansieht, stellt man fest, dass der Unternehmenssektor immer weniger in reale Werte wie Maschinen und Fabriken und immer stärker in Finanzanlagen wie Aktien, Anleihen und Derivate investiert. Kapital fließt damit in Tätigkeiten, mit denen keine neuen Werte geschaffen werden, sondern lediglich umverteilt wird. Das drückt auf die Nachfrage.

STANDARD: Und wird damit zum realwirtschaftlichen Problem?

Schulmeister: Wenn die wirtschaftlichen Aktivitäten ständig auf die Realwirtschaft gelenkt werden, ist das ein Positivsummenspiel für alle. Das heißt, der Kuchen wächst immer, ob man will oder nicht. Dass es zum Beispiel 1960 Vollbeschäftigung in Österreich gegeben hat, war nicht beabsichtigt von den Unternehmern. Das war, wenn man so will, ein Kollateralnutzen. Wenn das Profitstreben sich nur in der Realwirtschaft entfalten kann, dann habe ich Investitionsquoten in Maschinen, Fabriken und Bauwerke, die sich gewaschen haben. Dann brauche ich immer mehr Arbeitskräfte. Dadurch steigen Löhne, es gibt mehr Wohlstand. Aber heute ist die Spielanordnung auf die Finanzmärkte konzentriert.

STANDARD: Warum dieser Fokus auf die Finanzwerte?

Schulmeister: Die Liberalisierung an den Finanzmärkten war einer der Gründe. Plötzlich konnte viel mehr gehandelt werden. Das hat die Volatilität an den Finanzmärkten erhöht, besonders bei Währungen und Rohstoffen. Das bietet Spekulanten neue Gewinnchancen. Ein anderer Faktor ist, dass sich Finanzkapital heute so schnell und unproblematisch flüssigmachen lässt. Zwischen 2008 und 2016 haben Unternehmen kaum investiert. Ein Unternehmer, der auf viel Cash gesessen ist, hätte eine Maschine kaufen können. Wenn sich aber die damit verbundenen Erwartungen eines höheren Warenumsatzes nicht erfüllen, wäre die Investition verloren. Wenn ich als Unternehmer dagegen eine Aktie kaufe, kann ich sie in drei Minuten wieder verkaufen.

Schulmeister: Das Profitstreben der Unternehmer ist zu sehr auf die Finanzmärkte konzentriert.
Foto: Corn

STANDARD: Von dieser Entwicklung profitieren nur große Unternehmen, kleinen und mittelständischen fehlt das Geld für die Börse. Warum begehren sie nicht auf?

Schulmeister: Das hat viel mit der Offensive der Neoliberalen zu tun, die seit den 1940er-Jahren geplant war. Wer sind diese Neoliberalen? Da muss man korrekt sein, sonst verkommt das zu einem Schimpfwort, und so meine ich das nicht. Zu den führenden Köpfen gehörten der aus Österreich stammende Ökonom Friedrich August von Hayek und der US-Amerikaner Milton Friedman von der University of Chicago. Was beide verbindet, ist die Überzeugung, dass nur der Egoismus auf freien Märkten gute Resultate schafft. Die wissenschaftliche Fundierung ist völlig verschieden. Hayek, viel klüger und viel realitätsnäher, hat argumentiert, dass das Wissen jedes Einzelnen beschränkt ist. Gerade deshalb muss der Markt der Planwirtschaft immer überlegen sein, weil der Markt das Wissen von Milliarden Menschen bündelt. Hayek konnte mit dieser völlig richtigen Theorie ab den 1950er-Jahren immer mehr punkten, das akademische Fundament war gelegt.

STANDARD: Und das hat dann auch Unternehmer überzeugt, die gar nichts vom Finanzkapital haben?

Schulmeister: In den 1960er-Jahren kamen entscheidende Entwicklungen hinzu. Ab dem Zeitpunkt, als Vollbeschäftigung geherrscht hat, sind Gewerkschaften in die Offensive gegangen. Die Streiktätigkeit hat sich verdreifacht, die Gewerkschaften haben überbetriebliche Mitbestimmung verlangt. Dann kam 1968, das für die Vermögenden zusätzlich verstörend war. Nicht wegen des Protests der Studenten, sondern weil die Intellektuellen scharenweise nach links abgedriftet sind. Das war der Zeitgeist, der die Sozialdemokratie an die Macht geblasen hat. Kanzler Bruno Kreisky hat damals verkündet: Ich möchte alle Bereiche der Gesellschaft mit Demokratie durchfluten. Die Kleinunternehmer haben gesagt: Bei uns wird nichts durchflutet! Wenn man all diese Entwicklungen zusammennimmt, verstehe ich, dass die Vermögenden, aber auch Klein- und Mittelbetriebe, Handwerker und Baumeister gesagt haben: "So kann es nicht weitergehen", und eine gemeinsame Abwehrhaltung eingenommen haben. Gleichzeitig eroberten die Theorien der Neoliberalen die Hörsäle an den Wirtschaftsuniversitäten und wurden so nach und nach zur vorherrschenden gesellschaftlichen Theorie.

STANDARD: Gab es keine alternative Theorie, die verfangen hätte?

Schulmeister: Die Klein- und Mittelunternehmer hätten nur dann kritischer gegenüber dem Finanzkapitalismus werden können, wenn es in der öffentlichen Debatte eine Alternative gegeben hätte. Ein Angebot hätte auf politischer Ebene nur von der Sozialdemokratie kommen können. Aber das kam nicht. Die Alternativen für ein Wirtschaftsmodell, die heute angeboten werden, wie die Gemeinwohlökonomie und die Vollgeldinitiativen, sind Heilslehren, tut mir leid, das zu sagen, mit denen werden sie einen Bauherrn nie erreichen. Aber dazwischen hätte es Platz gegeben, um zu sagen: Ein effizienter, ausgebauter Sozialstaat kann auch für Unternehmer in der Tat gut sein, weil er die Nachfrage dort stabilisiert, wo die Firmen etwas anzubieten haben.

STANDARD: Warum hat die Sozialdemokratie Ihrer Ansicht nach versagt?

Schulmeister: Die Absage der Sozialdemokratie an ihre Rolle als bedingungsloser Verfechter des Sozialstaats in Europa und als Verfechter der Arbeitnehmerinteressen beginnt um 1990. Da sind zwei Dinge zusammengekommen: der Zusammenbruch des realen Sozialismus und die Vorbereitungen für die europäische Währungsunion. Im Zuge dieses Prozesses wurden in der EU die Maastricht-Kriterien geschaffen mit ihren strengen Vorgaben dazu, wie weit sich Staaten verschulden dürfen. Die Sozialdemokraten haben dem zugestimmt. Das zeigt doch, dass sie überhaupt kein Gefühl dafür entwickelt haben, welche Rolle solche Fiskalregeln dabei spielen können, den Sozialstaat zu schwächen. Das haben sie nicht kapiert.

STANDARD: Die Maastricht-Kriterien waren ein Versuch, die späteren Euroländer zur Haushaltsdisziplin zu zwingen, um eine gemeinsame Währung einführen zu können. Ist Haushaltsdisziplin für Staaten außerhalb von Krisenzeiten so falsch?

Schulmeister: Es gibt Ökonomen, die sagen, Staatsverschuldung ist nicht schlimm. Ich gehöre nicht dazu. In der Geschichte sind Krisen immer dann ausgebrochen, wenn die Staatsverschuldung sehr hoch war und deshalb private Vermögenswerte entwertet werden mussten, um das auszugleichen. Ich bin also ganz bei den Neoliberalen, die gegen hohe Schulden und Defizite sind. Die entscheidende Frage ist: Wie bekämpfe ich Budgetdefizite? Das Fatale der neoliberalen Theorie ist, dass hier immer die Schuldner schuld an Fehlentwicklungen sind. Wenn einer zu viele Schulden hat, so wie Griechenland, muss er sparen, wird daher gefordert. Das ist allerdings ein Schwachsinn.

Bild nicht mehr verfügbar.

Ist Griechenland schuld an seinem Finanzfiasko? Das allein greift zu kurz, argumentiert Schulmeister.
Foto: Reuters

STANDARD: Warum?

Schulmeister: Jeder Schuldner ist Teil eines Gesamtsystems. Der Kapitalismus hat immer nur dann funktioniert, wenn Unternehmer die angesparten Überschüsse der Privathaushalte in Form von Krediten für Investitionen übernommen und ausgegeben haben. Jedem Überschuss entspricht ein Defizit. Für diesen Ausgleich haben lange Zeit die Unternehmer mit ihren Investitionen gesorgt. In den 1950er- und 1960er-Jahren musste der Staat daher gar nichts tun und hatte einen ausgeglichenen Haushalt. Seit inzwischen 40 Jahren erzielt der Unternehmenssektor nun aber ebenso Überschüsse wie die Haushalte. Wer macht also die Defizite? Zum einen die Staaten. Die deutsche Lösung lautet: das Ausland. Aber diese Lösung ist irrwitzig. Da sind wir gleich bei Trump

Bild nicht mehr verfügbar.

Ein Trader an der Wall Street.
Foto: Getty

STANDARD: Bei US-Präsident Donald Trump?

Schulmeister: Den Maastricht-Vertrag haben auch die Südeuropäer unterschrieben, sich aber bekanntermaßen nicht daran gehalten. Sie haben mit ihrer Nachfrage Deutschland stabilisiert. Die südeuropäischen Länder haben riesige Außenhandelsdefizite gemacht, dafür konnte Deutschland eifrig Waren exportieren und seine Arbeitslosigkeit von über fünf Millionen Menschen abbauen. Dann kam die Finanzrkrise, und Deutschland sagte seinen Unterstützern in Südeuropa: Ihr habt so viele Schulden gemacht, so geht es nicht weiter. Das ist wahnwitzig. Aber die Geschichte geht noch weiter. Inzwischen haben alle Südeuropäer mit Ausnahme Frankreichs erhebliche Leistungsbilanzüberschüsse, sie exportieren also mehr, als sie importieren. Und jetzt kommt Trump und sagt verständlicherweise: Es geht nicht, dass der größte Wirtschaftsraum der Welt so große Leistungsbilanzüberschüsse auf unsere Kosten erzielt. Der systemische Ansatz sagt, dass man die Staatsdefizite bekämpfen muss. Das kann aber eben nur dann gelingen, wenn es für Unternehmen wieder interessanter wird, in die Realwirtschaft zu investieren.

STANDARD: Erklären Sie bitte Ihren Vorschlag aus Ihrem Buch, wie eine Trendwende möglich wäre, damit weniger Geld in die Finanzmärkte und mehr in klassische Investitionen fließt.

Schulmeister: Meine Lieblingsidee lautet, den Fließhandel auf allen Finanzmärkten durch Auktionen, die alle drei bis vier Stunden stattfinden, zu ersetzen. Der Preis für eine Aktie könnte also nicht mehr laufend, sondern nur alle paar Stunden ermittelt werden. Diese Idee würde die Welt vollkommen aus den Angeln heben.

STANDARD: Warum?

Schulmeister: Wenn Sie heute in einen Trading-Room gehen, sehen Sie die Leute vor sechs Bildschirmen sitzen und ständig Kurse beobachten. Wenn heute ein Trader überzeugt ist, dass Apple völlig überbewertet ist, würde er dennoch zuschlagen und Apple-Wertpapiere kaufen, wenn irgendwo auf der Welt ein kurzer Preisschub kommt. Eine solche kleine Bewegung kann man gut nützen, um viel Geld zu machen. Das führt aber im Kollektiv zu diesen überschießenden Preisbewegungen, was die Welt so viel krisenanfälliger gemacht hat. In meinem Modell müsste der Trader beginnen, darüber nachzudenken, was ihm eine Apple-Aktie wirklich wert ist, was die Fundamentaldaten wirklich sagen. (András Szigetvari, 19.8.2018)