Der Verurteilte zeigte sich schweigsam.

Foto: Standard, Möseneder

Wien – "Ich möchte Sie alle um Verzeihung bitten. Ich habe eine Straftat begangen und möchte nichts mehr sagen", eröffnet der Angeklagte Hikmatullah S. dem Geschworenengericht unter Vorsitz von Stefan Apostol. Um dann doch noch etwas zu präzisieren: "Ich habe die Straftat wegen der Kultur begangen." – "Was meinen Sie mit Kultur?", hakt Beisitzer Georg Olschak nach. "Ich möchte nicht mehr weitersprechen", hört er.

Der Ablauf des Prozesses gegen den Unbescholtenen, der am Morgen des 18. September 2017 in Wien-Favoriten seine jüngere Schwester mit 28 Stichen im Hof eines Wohngebäudes ermordet haben soll, folgt nicht dem üblichen Prozedere. Auf die Frage nach seinem Geburtsdatum antwortet der Afghane nämlich mit: "1. 1. 1999." – "Wie alt sind Sie also?", will Apostol wissen. "19." – "Ein Sachverständiger sagt aber, dass Sie schon zum Tatzeitpunkt älter als 21 gewesen sind." – "1999 ist das Alter, das mir meine Eltern immer gesagt haben."

Verteidiger will Prozessabbruch

Verteidiger Nikolaus Rast stellt daraufhin pflichtgemäß den Antrag, den Prozess abzubrechen und an einen Jugendgerichtshof zu übertragen. Bevor die Berufsrichter entscheiden, lassen sie den angesprochenen Sachverständigen, Fabian Kanz, darüber referieren, wie er zu seiner Alterseinschätzung kommt.

Der Experte sagt, man habe 2013 in Pakistan übermittelte Befunde und Röntgenbilder neuerlich analysiert, da S. sich weigerte, eine MR-Untersuchung mitzumachen. Ergebnis der Analyse: Der Angeklagte sei im vergangenen September mindestens 21 Jahre und drei Monate alt gewesen, maximal könnte er bereits 24 Jahre und drei Monate sein.

Rast, dessen einzige Chance auf eine milde Strafe die Anwendung des Jugendstrafrechts ist, wo die Höchststrafe für Mord 15 Jahre beträgt, versucht fast verzweifelt, die Korrektheit der Altersschätzung in Zweifel zu ziehen, scheitert allerdings. S. sei zum Tatzeitpunkt über 21 gewesen, sagt der Senat, damit droht lebenslange Haft.

APA

Überfüllter Zuschauerraum

Wie groß das Interesse an dem Fall ist, zeigt sich an der Menge der Zuseherinnen und Zuseher: Gerichtskiebitze und Rechtspraktikanten drängen in den Saal, Jungjournalistinnen bei ihrem ersten Außeneinsatz, Kanzleiangestellte aus dem Grauen Haus, selbst Staatsanwälte wollen einen Blick auf den Angeklagten erhaschen. Für die Mutter und den jüngeren Bruder des Angeklagten müssen zwei Rechtspraktikanten auf ihre Plätze verzichten.

Ankläger Mario Bandarra skizziert in seinem Eröffnungsplädoyer das Martyrium von Bakhti S., dem Opfer. Zunächst kam der Vater aus Afghanistan nach Österreich, erhielt Asyl, im Jahr 2013 kamen seine Frau und mehrere Kinder, darunter Hikmatullah und Bakhti, nach. Die Integration des Angeklagten ist als gescheitert zu bezeichnen: Nach einem Jahr flog er von der Schule, da er kein Deutsch lernte, er konsumierte illegale Drogen, achtmal beamtshandelte ihn die Polizei.

Für seine Schwester, deren Alter offiziell mit 14 angegeben wurde, die laut Obduktionsbefund aber 17 oder 18 gewesen sein muss, sollte das Leben in Österreich dagegen einen Neuanfang bringen. "Sie ging in die Schule, wollte eine Ausbildung machen und lernte Deutsch", beschreibt es der Staatsanwalt. Sie wollte auch kein Kopftuch mehr tragen und fand einen afghanischen Freund.

Schläge und Zwangsheiratsdrohung

Im Juni 2017 floh sie nach Graz und erstattete Anzeige gegen ihren Vater und den Angeklagten. Beide würden sie immer wieder schlagen, da eine Frau laut Hikmatullah S. "nur Kochen und Bügeln können muss". Der Vater drohte ihr demnach mit einer Zwangsverheiratung nach Pakistan.

Zurück in Wien, kam sie zunächst in ein Krisenzentrum, nach einer Woche kehrte sie zur Familie zurück. Zu einer Anklage gegen Vater und Bruder kam es nicht: Die steirische Polizei hatte bei der Einvernahme einen Formalfehler begangen und Bakhti S. nicht auf ihr Aussageverweigerungsrecht hinsichtlich Angehöriger hingewiesen. Bei einer zweiten Einvernahme in Wien machte sie davon Gebrauch, die Staatsanwaltschaft war machtlos, beteuert Bandarra.

Am 14. September flüchtete der Teenager neuerlich in das Krisenzentrum. Bakhti freute sich auf den Schulbesuch, wurde am ersten Tag auch von einer Betreuerin begleitet. "Die mangelnden Kapazitäten wurden ihr dann zum Verhängnis", führt der Ankläger auf. Denn am Tattag habe Hikmatullah S. am Reumannplatz auf sie gewartet – in der Tasche ein Kampfmesser mit 20 Zentimeter langer Klinge.

Unbekannter Gesprächspartner vor der Tat

Auf Überwachungsvideos aus der U-Bahn sieht man, dass der Angeklagte seiner Schwester zum Bahnsteig folgt und sie überredet, mit ihm mitzukommen. Außerdem weiß man, dass er via Headset mit jemandem telefonierte. Mit wem, konnte nicht eruiert werden – es war ein Wertkartenhandy. Nach der Tat stellte sich der junge Mann, ein Polizist notierte als erste Äußerung von S.: "Gut, dass sie jetzt tot ist, da sie die Ehre der Familie verletzt hat."

Verteidiger Rast muss alles auf seine zweite Option setzen – er versucht in seiner Anfangsäußerung die Geschworenen davon zu überzeugen, dass sein Mandant zwar der Mörder, aber nur ein "Werkzeug" sei. Von wem, spricht Rast nicht aus – es ist klar, dass er den Familienvater meint.

"Was hier passiert ist, kann man nicht entschuldigen", konzediert der Verteidiger. "Aber es ist der Versuch einer Erklärung. In der Familie hat man gewisse Sitten und Gebräuche nicht abgelegt. Und der Angeklagte ist selbst Opfer der Familie. Er flüchtete 2015 auch in ein Krisenzentrum, da ihn der Vater vorher mit einem Kabel verdroschen hat. In Wahrheit ist er nix anderes als ein junger Bub, egal ob über oder unter 21. Er ist nichts anderes als ein Werkzeug."

Teilnahmsloser Angeklagter

Der Angeklagte verfolgt die Verhandlung teilnahmslos mit gesenktem Kopf, zwei-, dreimal gähnt er herzhaft hinter vorgehaltener Hand. An mangelnden Deutschkenntnissen allein kann es nicht liegen: Auch als eine Ohrenzeugin, die die Schreie des sterbenden Opfers gehört hat, bei der Erinnerung daran in Tränen ausbricht, hebt S. den Kopf nicht.

Das scheint die Einschätzung der psychiatrischen Sachverständigen Gabriele Wörgötter zu bestätigen. "Er hat sehr wenig Bezug zu den eigenen Gefühlen oder denen anderer", erzählt sie dem Gericht. Bei der Untersuchung habe S. "keinerlei Einblick in sein Innenleben" gewährt. "Es entstand der Eindruck eines Familiengeheimnisses, das er nicht preisgeben wollte."

Bei der Frage nach dem Mord habe er gelächelt, erinnert sich die Expertin. "Es war sehr auffällig, ich würde das als Verdrängung werten." Wichtig sei ihm nur eines gewesen: die Familie. "Das, was die Familie bestimmt, steht über allem", sei ihr Eindruck von ihm gewesen. Dass er laut einem Augenzeugen sogar auf seine bereits liegende Schwester eingestochen habe, sei das klassische Overkill-Delikt. "Es müssen enorme Wut und Hass aufgestaut gewesen sein." Zurechnungsfähig sei S. aber gewesen, ist Wörgötter überzeugt.

Besondere Brutalität und verwerfliches Motiv erschwerend

Die Geschworenen brauchen für ein Mordverfahren ungewöhnlich kurz, bis sie ein nicht rechtskräftiges Urteil gefällt haben. Sie sprechen S. einstimmig schuldig, er wird zu lebenslanger Haft verurteilt. Das Geständnis und die Unbescholtenheit seien zwar wichtige Milderungsgründe, begründet Vorsitzender Apostol, die Tat sei aber besonders brutal gewesen und die Motivlage verwerflich.

Sie entstehe aus "einem verschrobenen Ehrgefühl, das mit den Wertvorstellungen der mitteleuropäischen Gesellschaft nicht in Einklang zu bringen ist". Durch diese "archaischen Vorstellungen" habe sich der Angeklagte selbst außerhalb der Gesellschaft gestellt, daher könne es nur die Höchststrafe geben. (Michael Möseneder, 22.8.2018)