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Für Kinder, die ihre Eltern pflegen, ändert sich das Leben enorm. Eine "family nurse" könnte helfen, glaubt die Expertin.

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Maja Roedenbeck weiß, was Kinder, die ihre Eltern pflegen, belastet.

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STANDARD: Kinder, die ihre Eltern pflegen – in Österreich geht man von 43.000 Betroffenen aus. Von ihnen handelt Ihr Buch, auch weil Sie das Problem aus dem Leben Ihrer Söhne, zwölf und 14 Jahre alt, kennen. Wie unbeschwert ist die Kindheit der beiden?

Roedenbeck: Großteils wirken sie trotz allem normal, das ist ja das Krasse. Auch alle meine jüngeren Gesprächspartner im Buch erzählen diese schlimmen Erlebnisse eigentlich als etwas ganz Normales, weil sie kennen's ja nicht anders: eine Kindheit, in der man eben nebenbei die Eltern mitpflegt. Deswegen können sie auch direkt daneben Freude erleben. Das ist für sie gar kein Gegensatz. Schwierig wird es dann, wenn sie so stark eingebunden sind, dass sie kaum mehr Freizeit haben.

STANDARD: Was bedeutet die Herz- und Nierenerkrankung Ihres Ex-Mannes im Alltag Ihrer Kinder?

Roedenbeck: Die Kinder sind jetzt oft allein mit dem Vater, und ihm geht es nach einigen recht guten Jahren wieder schlechter. Da sind sie diejenigen, die im Zweifelsfall den Notarzt rufen müssen. Das ist keine Pflege, aber eine wahnsinnige Belastung. Und sie müssen natürlich einkaufen, saugen, Sachen die Treppe hochschleppen. Andere Kinder spritzen den Eltern auch Insulin oder helfen ihnen aufs Klo. Der Begriff "Pflegen" ist so ein Graubereich. Man sagt ja nicht: "Wenn ich meinem Papa einen Tee bringe, dann pflege ich ihn noch nicht, aber wenn ich ihm einen Verband wechsle, dann pflege ich." Sondern es geht immer um die Frage: Überfordert das die Kinder? Haben die das Gefühl, wenn ich es nicht mache, dann macht es hier keiner, und das ganze System bricht zusammen? Da kann dann auch das Teebringen zu viel sein.

STANDARD: Wie belastend ist das für Ihre Kinder?

Roedenbeck: Wenn ich da nicht drauf rumreite, dann finden die das gar nicht so schlimm. Die sind dann eher sauer auf mich, wenn ich über die Situation sprechen möchte. Das ist auch, was mir andere Betroffene für das Buch erzählt haben: Vielen Kindern wird die Belastung erst viel später klar.

STANDARD: Ihre Kinder haben wenigstens Sie, damit Sie sie im Fall der Fälle unterstützen können. Andere sind ganz allein ...

Roedenbeck: Das hab ich natürlich ganz oft gehört, aber ich muss sagen: Nein, ich war während der schlimmen Phase rund um die Transplantation auch manchmal nicht mehr in der Lage, diese Rolle einzunehmen. Dann mussten die Kinder allein mit ihren Ängsten klarkommen. Meine schlimmste Vorstellung ist: Wenn Sie nicht rechtzeitig den Notarzt rufen, und der Papa stirbt, dann haben sie Schuldgefühle, weil sie etwas falsch gemacht haben. Und das ist natürlich eine enorme Belastung. Viele dieser Kinder haben Anzeichen von Depressionen, aber auch Rückenschmerzen, wenn sie ihre Eltern in den Rollstuhl heben müssen.

STANDARD: Wie können Eltern das abfedern?

Roedenbeck: Leider fällt in vielen betroffenen Familien dann gerade das weg, was die Kinder am meisten bräuchten: Rituale. Etwa fixe Zeiten für ein gemeinsames Essen oder das Feiern von Festen. Gerade in so einer Situation braucht es Stabilität. Oft ist aber die erste Reaktion der Eltern: "Ach, nach Geburtstagfeiern ist mir nicht, weil der Papa ist so krank."

STANDARD: Sprechen Ihre Kinder mit ihren Freunden darüber?

Roedenbeck: Wenn sie darüber reden, dann eigentlich nur im Schulfach Ethik, da waren nämlich auch Transplantationen ein Thema. Eigentlich möchten sie aber, dass keiner etwas mitkriegt. Sie kommen selbst damit klar, dass der Papa eine Glatze hat und zittert, aber sie wollen nicht, dass die Freunde das wissen. Viele andere Betroffene sagen, sie haben sich bemüht, zu Hause Hauswirtschaft zu machen – aber ein Kind weiß eben nicht, wie man Fenster putzt. Und die bringen dann oft keine Freunde mit nach Hause, weil die Freunde nicht sehen sollen, was für ein Chaos da herrscht. Und irgendwann wird man dann auch nicht mehr eingeladen. Viele Kinder haben mir gesagt, ihr Lehrer wusste von ihrer Situation und hat auch Hilfe angeboten – sie fragten sich aber: "Was soll ich dem denn sagen? Ich brauche Ihre Hilfe beim Staubsaugen?"

STANDARD: Wie kann man pflegenden Kindern dann helfen?

Roedenbeck: Es gibt derzeit keinen Beruf, in dem jemand verantwortlich ist nachzusehen, ob es bei einem kranken Menschen Kinder zu Hause gibt, auf die man achten muss. Das hat weder die Krankenschwester auf der Checkliste, noch ist das beim Sozialarbeiter angesiedelt. Das fällt immer nur zufällig auf. Deswegen bin ich überzeugt von der Idee der "family nurse". Die kommt wie eine Hebamme nach der Geburt immer wieder zum Patienten nach Hause, um dort zu schauen: Kommt ein Pflegedienst, gibt es eine Haushaltshilfe, kann der Patient seine Tabletten allein einsortieren? Und sie könnte eben auch dafür verantwortlich sein zu schauen, ob die Kinder überfordert sind.

STANDARD: Ist den Eltern die Überforderung ihrer Kinder bewusst?

Roedenbeck: Die schämen sich, dass sie ihrem Kind nicht das geben können, was es bräuchte. Die meisten Kinder, die ich für mein Buch interviewt habe, haben mir gesagt: "Wenn mein Elternteil einmal ehrlich mit mir geredet und die eigene Überforderung eingestanden hätte, wäre das gut gewesen." Patenschaftsprojekte wie jenes der Diakonie sind ein schöner Ansatz. Oft weisen das die betroffenen Familien aber von sich, weil sie denken, sie schaffen es allein, oder weil sie sich vor dem Jugendamt fürchten.

STANDARD: Wie erfahren Kinder überhaupt von solchen Angeboten?

Roedenbeck: Das ist tatsächlich ein Problem. Die Projekte haben viel zu wenig auf dem Schirm, dass man über Social Media mit den jungen Leuten kommunizieren muss. Die setzen immer auf die Lehrer, machen dann Flyer und verteilen sie an Pädagogen und Erzieher. Wir müssen aber die Kinder erreichen, über Instagram-Werbung oder kindgerechte Websites. Es wissen ja noch nicht einmal die Experten, was es an Hilfsangeboten alles gibt. Als ich zum ersten Mal bei meinem Kinderarzt gefragt habe, wohin ich mich wenden kann, konnte er mir keine einzige Telefonnummer nennen. (Karin Riss, 23.8.2018)