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Die schönen Seiten der Barbarei: Khal Drogo, bekannt aus "Game of Thrones", mit Arbeitsgerät.

Foto: dapd

Alessandro Baricco lässt seinen Essayband Die Barbaren (Hoffmann und Campe, 20,60 Euro) am Fuß der Chinesischen Mauer enden. Dort, im Reich der Mitte, sitzt der italienische Autor in einer kleinen Pension. Warmes Wasser gibt es nicht, ein Fernsehgerät schon. Auf einem Kanal spielt ein Mann Querflöte durch die Nase und balanciert dazu Teller auf seinem Kopf, auf einem anderen ist der dem gebürtigen Turiner verhasste Fußballklub AC Milan zugange und pflegt den sterilen Ballbesitz. Ein durchaus unerfreulicher Abend in der Fremde also – in einer schönen, neuen, globalisierten Welt.

Die große Mauer, ein militärisch sinnloser Schutzwall gegen die vermeintlichen Barbaren, eine "mit Stein geschriebene Idee", die sich wie eine betrunkene Schlange durch den Norden Chinas zieht, dient Baricco indes als Leitbild für seinen Essayband, der einen radikalen Epochen- und Kulturwandel diagnostiziert, der sich in der Ökonomisierung sämtlicher Lebensbereiche, dem Triumph des Spektakels über die Substanz und dem Verlust des Authentischen niederschlägt.

Kein Land für alte Männer

Baricco formulierte es so: "Oberfläche statt Tiefe, Schnelligkeit statt Nachdenken, Sequenzen statt Analyse, Surfen statt Vertiefen, Kommunikation statt Ausdruck, Multitasking statt Spezialisierung, Vergnügen statt Mühe." Er ist nicht der Erste, dem derlei auffällt, das Erfrischende an vorliegendem Langessay ist nun aber, dass sich der 60-jährige Schriftsteller, der Musik (Klavier) und Philosophie (Abschluss mit einer Arbeit über Adorno) studierte, nicht als Ankläger aufspielt.

Vielmehr versucht der italienische Erfolgsautor, der mit Romanen wie Seide (1996) und dem Theatermonolog Novecento (1994) Welterfolge verbuchte, die konstatierten Veränderungen nicht nur zu beklagen, sondern sie auch zu verstehen. Wie Walter Benjamin, der an einigen Stellen des Bandes zitiert wird, entschlüsselt auch Baricco die DNA der westlichen Kultur und Gesellschaft nicht nur anhand ihrer Höhenflüge, sondern auch anhand ihrer scheinbar unbedeutenden Entgleisungen.

Als Beispiele führt er Wein, Fußball und Bücher ins Treffen. Beim Wein beobachtet er eine "Hollywoodisierung", will heißen einen von Geschäftsmännern, die sich wenig um hehre Traditionen scheren, angestoßenen Trend zu einem Rebensaft, der schnellen Genuss und wenig anstrengende Sinneserfahrung verspricht. Im Fußball sieht er eine über Genialität und Unberechenbarkeit triumphierende Taktik, die mittels Disziplin das Spiel nivelliert.

Im Buchmarkt schließlich konstatiert er den Vorrang kaufmännischer Ziele und den Verlust ästhetischen Reichtums. Baricco nennt diese Entwicklungen "Plünderungen". Möglich gemacht durch technische Innovationen wie Klimaanlagen, die eine kontrollierte Gärung von Weinen auch bei ungünstigem Klima erlauben, und – in den andern beiden Fällen – durch die Digitalisierung, Stichwort Medienwandel.

Die Frage, ob das Dorf der alten Kultur samt seinen Traditionen durch diese Invasion eleganter, technikaffiner "Barbaren" zerstört wird, zieht sich wie ein roter Faden durch den Band. Bariccos Antwort: Nur vielleicht. Und dies, obwohl die Haltung des Autors eindeutig ist. Er scheut sich nicht, große Worte wie Seele, Dignität oder Schönheit in den Mund zu nehmen, die er bedroht sieht. Immer wieder blendet er jedoch zurück in die Geschichte vor allem der Aufklärung und der Romantik, als sich die etablierte Kultur wiederholt von Barbarei bedroht fühlte. So begab es sich einst, dass der bürgerliche Roman als durch und durch schändlicher Gegenstand wahrgenommen und zuweilen von Ärzten verboten wurde.

Genüsslich zitiert Baricco auch aus einer Rezension aus dem Jahr 1824, die in Beethovens Neunter jenen grauenvollen Stil der Zeit "mit ihrem Talent zur Oberflächlichkeit" erkennen will. Kurz, so der Rezensent weiter, es handle sich um ein Machwerk für Köpfe, die "an nichts anderes zu denken vermögen als an Kleidung, Mode, Klatsch und unmoralische Ausschweifungen".

Erfundene Grenzen

Dass Produkte der heutigen Kulturindustrie dereinst wie die Neunte als erhabenes Festungswerk der Kultur gelten werden, bezweifelt Baricco. Trotzdem plädiert er dafür, anderen nicht vorschnell das Prädikat "Barbar" zu verleihen. Und er rät, dem Gegenüber nicht Sinn, Logik und einen Traum abzusprechen. Wohl auch deshalb räumt er ein, dass der Untertitel des Bandes Über die Mutation der Kultur der schlüssigere Titel für das Buch gewesen wäre – verglichen mit Die Barbaren. Nur weniger sexy halt. So viel zu den Marktgesetzen.

Erschienen sind die nun auf Deutsch vorliegenden Essays als Fortsetzung in der Zeitung La Repubblica. Und dies schon 2006. Die Texte sind frisch geblieben. Nicht zuletzt in den Passagen über die Chinesische Mauer. Diese wehrte laut Baricco die Barbaren aus dem Norden keineswegs ab. Im Gegenteil, es dauerte nicht lange, bis sie in Form von Kublai Khan und den Mandschus auf dem Kaiserthron saßen. Die Mauer scheine die Befestigung einer Grenze zu sein, so der Autor, in Wirklichkeit aber handle es sich um die "Erfindung einer Grenze". Also um eine fixe Idee.

Jedes Mal, wenn sich jemand in der Diskussion über die Veränderung der Kultur der Pflicht entziehe, das zu verstehen, schreibt Baricco weiter, werde "die Mauer höher, und unsere Blindheit vergrößert sich in der Vergötterung einer Grenze, die es nicht gibt, auf deren Verteidigung wir aber stolz sind". (Stefan Gmünder, 28.8.2018)