Der vom Geografen und Kolonialisten Ferdinand von Richthofen (1833–1905) geprägte Begriff "Seidenstraße(n)" ist die Bezeichnung für ein System von Handelswegen. Zu seinen Blütenzeiten in der Antike und auch zum Teil im Mittelalter verband es das heutige China über Zentralasien mit Südostasien, dem Nahen Osten, dem Mittelmeerraum und Europa.

Die alte Seidenstraße war trotz ihrer wechselvollen Geschichte bis zum Beginn der Neuzeit die wohl bedeutendste Sphäre des Fernhandels in Eurasien. Ebenso wichtig wie für Handelswaren – von denen Seide eine wichtige, doch nur eine von vielen war – war das Seidenstraßennetzwerk auch für Migrationsbewegungen und kulturellen, sprachlichen sowie wissenschaftlich-technischen Austausch.

Faszinierend für mich ist, dass die Seidenstraße damit die sozioökonomische und geistig-kulturelle Entwicklung in Eurasien nachhaltig geprägt hat, wir aber eigentlich erst am Anfang stehen, was die Aufarbeitung der direkten Quellen ihrer Geschichte angeht. Gemeinsam mit meinem Team werde ich in den kommenden Jahren mit einem Projekt bezüglich der Sprach- und Schriftgeschichte einen Beitrag zur Erforschung und zum Verständnis der alten Seidenstraße leisten.

Die alte Seidenstraße in den ersten Jahrhunderten nach der Zeitenwende.
Foto: Wikicommons (CC-3.0) [https://de.wikipedia.org/wiki/Seidenstra%C3%9Fe#/media/File:Seidenstrasse_GMT.jpg]

Unbekannte Sprachen

Die historische Bedeutung der Knotenpunkte der Seidenstraße – wie etwa der Oasen im Tarimbecken im heutigen uigurischen Autonomiegebiet Xinjiang der Volksrepublik China und der alten Handelsstädte im heutigen Norden Afghanistans und Pakistans sowie im Süden Usbekistans und Turkmenistans – wurde eigentlich erst mit dem Beginn der Zentralasienforschung am Anfang des 20. Jahrhunderts langsam offenbar. Heute ist klar, dass die Hauptumschlagplätze der Seidenstraße über eine gehobene urbane Kultur verfügten, in der eben nicht nur Handel, sondern auch Literatur, Kunst und Wissenschaft in vielen verschiedenen Sprachen und vor dem Hintergrund verschiedener Religionen florierten.

Insbesondere die Erforschung Xinjiangs und seiner Grenzregionen förderte um den Beginn des 20. Jahrhunderts Dokumente in dutzenden alten Sprachen zutage. Dazu zählen unter anderem die ältesten erhaltenen Schriftstücke des Tibetischen aus dem 7. Jahrhundert und das erste mit Sicherheit datierbare gedruckte Buch: die chinesische Version des buddhistischen Diamant-Sutra, datiert auf den 11. Mai 868, beinahe 600 Jahre vor der Gutenberg-Bibel. Neben anderen – bis dahin unbekannten – Sprachen war eine der erstaunlichsten Entdeckungen der Fund von unzähligen Manuskripten in verschiedenen indogermanischen Sprachen, die mich als historischen Sprachwissenschafter – nicht zuletzt aufgrund ihres Fundortes im heutigen China – besonders interessieren.

Eine Familienangelegenheit

Die indogermanische Sprachfamilie besteht heute aus ungefähr 450 Sprachen, die von etwa dreieinhalb Milliarden Menschen gesprochen werden. Sie gliedert sich in die folgenden prinzipiellen Zweige, geordnet nach der Anzahl der Sprecher mit bekannten Ablegern in Klammern: Italisch (Latein; romanische Sprachen wie Spanisch und Französisch), Indisch (Hindi, Bengali, Punjabi), Germanisch (English, Deutsch), Slawisch (Russisch, Polnisch), Iranisch (Farsi, Paschto), Griechisch, Armenisch, Albanisch, Baltisch (Litauisch, Lettisch), Keltisch (Walisisch, Irisch) und die zwei nicht mehr gesprochenen Zweige Anatolisch (Hethitisch) und Tocharisch.

An der alten Seidenstraße, insbesondere in und um jenen Teil, der heute im Tarimbecken im Nordwesten Chinas liegt, wurden das altindische buddhistische Sanskrit, die iranischen Sprachen Sakisch und Sogdisch sowie der bis dahin unbekannte Zweig Tocharisch (gegliedert in Westtocharisch oder Tocharisch B, Osttocharisch oder Tocharisch A) gefunden.

Heute wissen wir, dass das Sogdische in der Antike für hunderte Jahre die lingua franca, also Verkehrssprache, an der Seidenstraße war und sogdische Händler sogar Kontore in der alten Hauptstadt Chinas, Chang’an (heutiges Xi’an in der Provinz Shaanxi), besaßen. Die anderen Sprachen sind zu einem großen Teil durch Dokumente bekannt, die zu den ältesten erhaltenen buddhistischen Manuskripten gehören.

Wege des Buddhismus

Der Buddhismus hatte sich in den ersten Jahrhunderten um die Zeitenwende entlang von Handelswegen von Nordindien nach Zentralasien verbreitet. Im Gebiet um die Stadt Peshawar an der heutigen Grenze von Afghanistan und Pakistan erlebte die Gandhara-Kultur eine bedeutende Blüte. Aus der dortigen Verschmelzung indischer, iranischer und hellenistischer Stränge ging eine buddhistische Kultur hervor, die entscheidenden Einfluss auf die Verbreitung des Buddhismus über Zentralasien nach China und darüber hinaus hatte.

Von Zentren wie Gandhara verbreitet sich der Buddhismus entlang der Seidenstraße. An ihren Knotenpunkten, insbesondere in den Oasenstädten des Tarimbecken, entstanden immer mehr Klöster, in denen ähnlich wie in ihren christlichen Gegenstücken im europäischen Mittelalter Dokumente tradiert, verfasst und übersetzt wurden. Einer der bedeutendsten Übersetzer buddhistischer Werke, wie zum Beispiel dem oben erwähnten Diamant-Sutra, ins Chinesische war der Gelehrte Kumarajiva (344–413), Sohn eines indischen Mönchs und einer tocharischen Adeligen aus Kucha im Tarimbecken.

Buddhastatue im graeco-buddhistischen Stil aus Gandhara, 1./2. Jahrhundert.
Foto: Public Domain

Viele Sprachen, eine Schrift

Sanskrit, Tocharisch und Sakisch schrieb man mit einer speziellen Variante der aus Indien stammenden Brahmi-Schrift, die hauptsächlich mit Tusche und Pinsel auf chinesischem Papier geschrieben wurde. Im Gegensatz zur mittelalterlichen europäischen Klosterschreibtradition ist der überwiegende Teil der aus dem Tarimbecken stammenden Manuskripte fragmentarisch. Dieser Umstand wirkt sich umso mehr aus, als ihre Entwendung aus China durch die damaligen Kolonialmächte mit einer Aufsplitterung in unterschiedliche Sammlungen einherging. Damit ist die Frage, wer, wann, was, wo und wie geschrieben und übersetzt hat, in den meisten Fällen bei diesen Manuskripten ungeklärt. Die Beantwortung dieser Fragen, die von entscheidender Bedeutung für die Geschichte dieses Abschnitts der Seidenstraße und das Verständnis der dort überlieferten Sprachen sind, stehen im Zentrum unseres Forschungsprojekts.

Buddhistisches Höhlenkloster in Kizil im Tarimbecken, 3. bis 8. Jahrhundert.
Foto: rolfmueller/Wikicommons (CC-3.0) [https://en.wikipedia.org/wiki/Kizil_Caves#/media/File:Kizil_caves_2006_10_01.jpg]
Wandgemälde zweier buddhistischer Mönche in den Tausend-Buddha-Höhlen von Bäzäklik im Tarimbecken, circa 8. Jahrhundert.
Foto: Public Domain

Auf den Spuren der Brahmi-Schrift

Mithilfe von Paläografie, also Schriftkunde, gestützt auf sprachwissenschaftliche Annotation und digitale Analyse der Manuskriptfragmente, werden wir die Entwicklung der Brahmi-Schrift im Tarimbecken nachzeichnen, Schreiberhände und Schreiberschulen identifizieren sowie einen Teil der unzähligen kleineren Fragmente auf Grundlage ihrer paläografischen und sprachlichen Eigenheiten zu größeren Einheiten verbinden. So werden wir die sprachwissenschaftliche Erforschung des Tocharischen, Sakischen und buddhistischen Sanskrit vorantreiben, um mehr über ihren Wandel in Raum und Zeit, ihr Verhältnis zueinander und ihre Verbindung mit anderen ihnen verwandten Sprachen zu erfahren.

Tocharisches Manuskript aus dem 7. Jahrhundert.
Foto: Public Domain

Junge Sprachvarianten, alter Schriftstil

Ein erstes Ergebnis unserer Forschung, das wir durch den Vergleich von Sprach- und Schriftwandel im Tocharischen erzielt haben, ist, dass sprachliche jüngere Varianten mit paläografisch älteren Schriftstilen geschrieben wurden, was ein Hinweis auf konservative Schreibschulen sein könnte. Dies wäre in etwa so, als würden Varietäten des heutigen Deutsch immer noch mit karolingischer Minuskel geschrieben werden.

Ein Ziel unseres Projekts ist es auch, dass wir die von uns untersuchten Sprachen für die Erforschung durch andere Disziplinen wie Geschichtswissenschaft und Buddhismuskunde sowie natürlich der interessierten Öffentlichkeit aufbereiten und damit diesen Abschnitt der Seidenstraße als Verbindung unterschiedlicher Kulturräume, Wissenswelten und Sprachen zugänglich zu machen. (Hannes A. Fellner, 29.8.2018)