STANDARD: Was würde ein Gebietsaustausch zwischen Serbien und dem Kosovo für die bisherige Minderheitenpolitik bedeuten, die der Westen seit 1991 betrieben hat?

Bieber: Die Minderheitenpolitik nach 1989 war im ehemaligen Jugoslawien nicht darauf ausgerichtet, durch den Schutz von Minderheiten Irredentismus und Konflikte zu vermeiden. So entstand eine europäische Struktur zum Schutz von Minderheiten. Wenn Grenzen im Kosovo geändert werden, um neue "ethnische Grenzen" zu schaffen, ermutigt man zukünftige Forderungen und Fantasien von Grenzänderung, auch wenn sich diese nicht realisieren ließen. Dies wird Konflikte zwischen Minderheiten und Mehrheiten beflügeln.

STANDARD: Kann der Gebietsaustausch dazu führen, dass die fünf EU-Staaten, die den Kosovo nicht anerkennen, dies danach tun?

Bieber: Ohne eine Mitgliedschaft in der Uno und die Anerkennung des Kosovo durch die fünf Nichtanerkenner ist ein Abkommen mit Serbien hinfällig. Für den Kosovo ist diese internationale Dimension wichtiger. Natürlich ist ein Abkommen eine Voraussetzung für die Anerkennung durch die Staaten. Gleichzeit kann eine Grenzänderung aber gerade bei diesen Staaten ihre Angst bestärken, dass der Kosovo auch als Vorbild für Grenzänderungen anderswo dienen kann. Schließlich ist die Nichtanerkennung nicht ein Produkt der Lage im Kosovo, sondern aus der oftmals fehlplatzierten Angst vor einer Vorbildfunktion für die eigenen Minderheiten.

STANDARD: Wären Grenzänderungen jenseits des Prinzips "Uti possidetis" (eine Ausformung des völkergewohnheitsrechtlichen Effektivitätsgrundsatzes, Anm.) ein Paradigmenwechsel für die Balkanpolitik?

Bieber: Seit 1991 haben sich die Grenzen auf dem Balkan zunächst durch das Prinzip "Uti possidetis" geändert, dem Konzept des Völkerrechts, dass bei der Unabhängigkeit von Kolonien oder später auch bei einem Staatszerfall die internen administrativen Grenzen bestehen bleiben. Der Kosovo war bereits eine partielle Ausnahme, da der Kosovo keine Republik Jugoslawiens war. Das war natürlich eine etwas willkürliche Unterscheidung, da der Kosovo mit der Wojwodina de facto die gleiche Position in Jugoslawien hatte wie die Republiken. Im Fall des Kosovo kam es zur Unabhängigkeit aufgrund einer komplexen Kombination von Faktoren, etwa der von der Uno abgesegneten Verwaltung, der Uno-Sicherheitsrat-Resolution 1244 sowie den massiven Menschenrechtsverletzungen durch Serbien 1999. Eines der Prinzipien des westlichen Engagements seit 1991 war es, Grenzänderungen nach ethnischen Kriterien abzulehnen. Zunächst birgt dies immer das Risiko, dass eine Konfliktpartei dies als Freibrief interpretiert, Minderheiten zu vertreiben, und auch, weil solche Grenzziehungen immer neues Unrecht schaffen und die Idee von Minderheitenschutz unterminieren.

STANDARD: Hätten Grenzänderungen möglicherweise rechtliche Auswirkungen für Russland in der Argumentation bezüglich der Krim?

Bieber: Der Grund dafür, in Jugoslawien auf den administrativen Grenzen von 1991 zu bestehen, war direkt mit dem Zerfall der Sowjetunion verbunden. Ethnische Grenzziehungen in den Republiken der Sowjetunion hätten 1991 und 1992 weitaus gefährlicher sein können als der Zerfall in die bestehenden Republiken. Wenn dieses Prinzip aber infrage gestellt wird und neue Grenzen gezogen werden können, dann weckt das bei vielen Nationalisten, auch außerhalb des Balkans, die Hoffnung, dort Grenzen neu zu ziehen. Werden im Kosovo und Serbien Grenzen neu gezogen, so kann das auch für Russland attraktiv sein, die Annexion der Krim zu legalisieren. Das wäre trotzdem nicht einfach, da immerhin im Fall des Kosovo und Serbien ein gemeinsames Abkommen entstehen würde. Es wäre für die Krim schwer vorstellbar, dass die Ukraine dem zustimmen würde. (Adelheid Wölf, 28.8.2018)