STANDARD: Sie übernehmen die Diakonie in politisch spannenden Zeiten. Was sehen Sie als größte Herausforderung?

Moser: Mir ist wichtig zu zeigen, dass es uns nicht nur darum geht, die Menschen gut zu versorgen, in der Pflege zum Beispiel, sondern dabei auch die Werte, auf denen unsere Gesellschaft aufbaut, deutlich zu machen: Solidarität, gegenseitige Unterstützung. Das ist eine große Herausforderung: Unterstützung zu brauchen wird so negativ bewertet. Ich verstehe das nicht, es ist doch ganz normal, jeder Mensch braucht Unterstützung, keiner lebt nur für sich allein. Wir brauchen die Unterstützung, auch um etwas beitragen zu können.

STANDARD: Ist die Scheu, Hilfe anzunehmen, größer geworden?

Moser: Was stärker geworden ist, ist die Stigmatisierung von Menschen, die Unterstützung brauchen. Die ganze Sozialschmarotzerdebatte, so zu tun, als würden Menschen, die Mindestsicherung beziehen, in der Hängematte liegen. Das ist einfach nicht wahr. Von denen, die Mindestsicherung beziehen, sind 28 Prozent arbeitslos, der Rest sind Pensionistinnen, Erwerbstätige, die zu wenig verdienen, auch sehr viele Menschen mit Behinderungen.

Mit großer Sorge sieht Moser den Kürzungen im Flüchtlingsbereich entgegen.
Andy Urban

STANDARD: In der Debatte ist meist von den Geflüchteten die Rede.

Moser: Ja, aber wir haben zum Beispiel Zahlen von Niederösterreich und da ist es nur jeder Siebente. Wenn es die angekündigten Kürzungen gibt, betreffen sie jedenfalls alle – und ganz besonders Kinder. Es wird 80.000 Kinder in Österreich treffen.

STANDARD: Sie sind Expertin für feministische Theologie. Wie fließt Ihr Feminismus in die Arbeit ein?

Moser: In der Diakonie sind sehr viele Frauen tätig: Pflege, Bildung, soziale Arbeit, für andere zu sorgen, andere zu unterstützen, selbstständig zu sein – das wird so abgewertet. Da ist es mir wichtig zu sagen: Das sind ganz entscheidende Beiträge für die Gesellschaft, man muss das wertschätzen. Es sind unglaubliche Leistungen, die Pflegende erbringen. Den Spitzenmanager, der einen Monat im Pflegeberuf durchhält, schau ich mir an, und mich würde interessieren, was er danach zu dieser Leistung sagt. Es wäre wichtig, dass viel mehr Männer in solche Tätigkeiten gehen. Es gibt nichts, wofür Männer per se besser oder schlechter geeignet sind.

STANDARD: Gibt es einen antifeministischen Backlash?

Moser: Ja. Besonders deutlich wird es in der Sprachdebatte, wenn gesagt wird, es sei nicht notwendig, Frauen und Männer zu erwähnen. Ich denk mir, es bricht sich niemand die Zunge oder den Schreibfinger, wenn man Frauen auch erwähnt. Wir wissen, dass es fatale Folgen hat, wenn man Frauen sprachlich weglässt. Auch in der Bibelgeschichte: Es hat Apostel und Apostelinnen gegeben. Im Griechischen und Lateinischen hat man aber immer "Apostel" gesagt, und die Apostelinnen waren mitgemeint – und 2000 Jahre später waren sie vergessen. Das ist einfach ärgerlich.

STANDARD: Der Spardruck ist im sozialen NGO-Bereich groß. Wie kann man da noch Visionen entwickeln, wenn man ständig kämpfen muss, Bestehendes zu verteidigen?

Moser: Uns geht es nie nur darum, unsere Projekte zu verteidigen, sondern auch, genau hinzuschauen: Was sind die Nöte der Menschen? Dann aus diesen Nöten neue Antworten zu entwickeln und erst dann zu schauen, wie wir sie finanzieren. Man darf sich der Pragmatik der Sachzwänge nie von vornherein unterwerfen. Es heißt oft, Visionäre seien unrealistische Träumer. Ich glaube, Visionäre sind sogar besonders realistisch. Martin Luther King hat in seiner großen Rede ganz genau die knallharte Realität der Segregation benannt. Und hat gesagt, wie es besser laufen könnte.

"Die Stigmatisierung von Menschen, die Unterstützung brauchen, ist stärker geworden."
Andy Urban

STANDARD: Wie sehen Ihre Visionen aus?

Moser: Im Bereich der Pflege denken wir neue Wohnformen an. Weg von großen Heimen, hin zu gemischten Hausgemeinschaften und mobilen Angeboten. Dass man Leute mit Pflegebedarf nicht verräumt, sondern dass sie im Grätzel mitleben können. Momentan kann man drei Stunden mobile Pflege pro Tag in Anspruch nehmen. Das kann im Einzelfall viel zu wenig sein. Wir fordern, das auszuweiten.

STANDARD: In welchem Ihrer Tätigkeitsfelder ist das Geld besonders knapp?

Moser: Im Flüchtlingsbereich waren die öffentlichen Mittel nie ausreichend. Was wir in Zukunft stark merken werden, ist, dass wir keine unabhängige Rechtsberatung mehr machen können. Das wird eine Agentur machen, die zum Innenministerium gehört. Das ist ein Problem, weil die Behörde des Ministeriums, die über Asylanträge entscheidet, eine Fehlerquote von 42 Prozent hat. Dem sehen wir mit großer Sorge entgegen. Es geht dabei nicht um uns, um die Angst, dass wir unsere Jobs verlieren. Sondern darum, dass die Betroffenen keine unabhängige Beratung bekommen. Das ist, als würde Nestlé den Konsumentenschutz übernehmen.

STANDARD: Manche sehen es kritisch, dass NGOs wie Diakonie und Caritas auch zur Tagespolitik Stellung nehmen.

Moser: Wir wollen keine politische Partei sein. Wir sind, bildlich gesprochen, für Menschen da, die unter die Räuber gefallen sind. Da geht es erst einmal darum, Wunden zu versorgen. Wenn wir aber merken, es gäbe bessere Heilmittel, um die Wunden zu versorgen, dann müssen wir das thematisieren. Und wenn wir sehen, wie wir verhindern könnten, dass Menschen unter die Räuber fallen, dann müssen wir das ganz klar sagen. Diesen Auftrag geben wir uns nicht selbst, den gibt uns das Evangelium.

"Man darf sich der Pragmatik der Sachzwänge nie von vornherein unterwerfen."
Andy Urban

STANDARD: Wie bewerten Sie das Aus bei der Asylwerber-Lehre?

Moser: Eine menschliche Katastrophe. Ich muss jetzt ein bisschen fromm werden: Gott hat eine schöpferische Kraft in jeden von uns gelegt. Wir wollen alle etwas beitragen, das gilt für junge Menschen besonders, und noch mehr für junge Asylwerber, die auf der Flucht Schlimmes erlebt haben. Es ist eine menschliche Katastrophe, das jemandem zu verwehren. Und es ist ein Widerspruch: Es heißt immer, Integration durch Leistung. Und die, die leisten wollen, lässt man nicht. Da denk' ich mir: Vielleicht geht es also nur um ausländerfeindliche Ideologie.

STANDARD: Die Regierung argumentiert so: Die Menschen in Österreich waren von den Flüchtlingsankünften 2015 überfordert und brauchen diese Signale der Härte, um sich sicher zu fühlen.

Moser: Wir haben weder in den Pfarren noch in der Diakonie bemerkt, dass die Stimmung gekippt ist. Wir beobachten nach wie vor große Solidarität, großes Engagement. Was ich schon sehe, ist ein Kippen der politischen Moral. Das ist ein Problem auf der Ebene der Erzählung – alles sei so schrecklich, und wir seien so überfordert. Von den Menschen höre ich das weniger. (Maria Sterkl, 31.8.2018)