In einer Rede griff Daniel Kehlmann 2009 das deutsche Regietheater an. Es kostete ihn Theateraufträge. Revidieren will er seine Diagnose nicht.


Foto: Beowulf Sheehan

Im Jahr 1939 verweigerten Kuba, die USA und Kanada 937 Juden die Aufnahme. Diese waren mit dem Schiff St. Louis, das schließlich beidrehte und nach Europa zurückfuhr, aus Deutschland geflüchtet. Ein 1974 unter dem Titel Reise der Verdammten erschienenes Sachbuch arbeitet die Geschichte der Irrfahrt des Schiffes und seiner Passagiere auf. Josefstadt-Direktor Herbert Föttinger schlug Daniel Kehlmann vor, den Stoff zu dramatisieren. Der Autor sagte sofort zu. Es waren nicht nur die Parallelen zum Heute, die ihn den Auftrag annehmen ließen, sondern auch die Herausforderung, in Die Reise der Verlorenen (Uraufführung: 6 September) eine wahre Geschichte mit den Mitteln des Dokumentartheaters zu erzählen.

STANDARD: Der Sommer 2018 ist von Irrfahrten von Flüchtlingsschiffen im Mittelmeer geprägt. Sehen Sie Parallelen?

Kehlmann: Natürlich! Und die verstörendste Parallele sieht man, wenn man die Zeitungsartikel aus Kuba und den USA von damals liest: Die gleichen Argumente, warum es angeblich die Vernunft diktieren soll, eine Schiffsladung voll leidender Menschen nicht an Land zu lassen. Argumente, die damals offenbar überzeugend waren und die im Rückblick ganz und gar lächerlich aussehen.

STANDARD: Die politische Lage damals und heute ist kaum vergleichbar. Ist die Gefahr nicht groß, zu vereinfachenden Kurzschlüssen zu kommen?

Kehlmann: Die politische Lage ist vielleicht nicht vergleichbar, aber die Lage von Menschen, die auf einem Schiff zusammengepfercht sind und die keiner an Land lassen möchte, ist die gleiche. In so einer Situation geht es nicht um abstrakte Analysen der geopolitischen Lage, sondern um simple Empathie.

STANDARD: Michael Köhlmeier wurde nach einer Rede im Mai scharf angegriffen. Er verglich das Schließen der heutigen Grenzen mit jenem während der NS-Zeit. Ist Ihr Theaterstück rund um diese These gebaut?

Kehlmann: Mein Theaterstück ist um keine These gebaut. Ich erzähle ohne eine einzige Erfindung davon, wie damals die Verhandlungen in Kuba, den USA und London abliefen. Unabhängig davon war Michael Köhlmeiers Rede ein großer Moment moralischer Klarheit, für den ich ihm immer dankbar sein werde.

STANDARD: Sie leben in New York. Wie haben Sie im September 2015 die Flüchtlingswelle erlebt?

Kehlmann: Ich war im Sommer 2015 in Wien. Ich erinnere mich an das skandalöse Verhalten der ungarischen Polizei, und ich erinnere mich an die empörenden Zustände im Flüchtlingslager Traiskirchen, wo Österreich, eines der reichsten Länder der Welt, es nicht fertigbringen konnte, den Menschen auch nur funktionierende Toiletten zur Verfügung zu stellen. Und ich erinnere mich daran, wie diese moralisch unerträgliche Lage plötzlich durch einen Entschluss Angela Merkels beendet wurde.

STANDARD: Die Fronten haben sich verschärft. An offene Grenzen glaubt kaum einer mehr.

Kehlmann: Auch damals hat keiner an offene Grenzen geglaubt! Die Entscheidung Angela Merkels war doch keine Grundsatzentscheidung für die Aufgabe der EU-Außengrenzen, es war ein Akt der Empathie in einem Moment, da es fast jeden Tag Tote an unseren Grenzen gab – erinnert sich keiner mehr an die vielen Menschen, die eingesperrt in Trucks umgekommen sind? Auf diese Situation musste man reagieren, man musste einfach helfen! Seltsamerweise haben das jetzt fast alle vergessen und reden über die Entscheidung von damals, als wäre sie in einem luftleeren Raum passiert.

STANDARD: Die österreichische Regierung forciert Grenzschließungen. Mit welchen Gedanken verfolgen Sie das als Auslandsösterreicher?

Kehlmann: Als Auslandsösterreicher ist man zurzeit ohnehin ständig damit beschäftigt, sich für dieses Land zu schämen. Ein Kulturminister, der die Verleihung des wichtigsten Kulturpreises des Landes verlässt, bevor die Preisträgerin Zadie Smith ihre Rede gehalten hat. Eine Außenministerin, die einen Diktator zu ihrer Hochzeit einlädt. Und ein Kanzler, dessen größtes Vorbild offenbar der Mann ist, der in Ungarn gerade die Demokratie abschafft.

STANDARD: Die Hollywoodverfilmung der "Reise der Verdammten" mit Faye Dunaway und Oskar Werner wurde von der "New York Times" 1976 total verrissen. Wie gehen Sie mit der Gefahr um, dass der Stoff zum Melodram wird?

Kehlmann: Die Gefahr ist groß – meine Lösung ist das Dokumentartheater. Ich lasse die Figuren immer wieder aus der Rolle treten und den Zuschauern direkt erklären, was gerade vorgeht und warum, das bringt jedes Mal eine Rückkehr zur Sachlichkeit. Mein Stück stützt sich nicht auf den Film, den ich auch nicht mag, sondern auf das hervorragend recherchierte Sachbuch von Gordon Thomas und Max Morgan-Witts.

STANDARD: Es ist das erste Mal, dass Sie ein Stück für mehr als zwei Dutzend Schauspieler geschrieben haben. Wie ging es Ihnen damit?

Kehlmann: Es war eine große Freude, fast wie das Schreiben eines Romans, wo man nicht mit Figuren sparen muss. Bedauert habe ich nur den Männerüberhang – es gibt kaum Frauenrollen. Das hätte ich gerne geändert, aber alle Verhandler und Entscheider, die mit der Reise der St. Louis zu tun hatten, waren nun einmal Männer. Und ich hatte mich entschieden, absolut nichts zu erfinden und keine Fakten zu ändern.

STANDARD: 2009 griffen Sie in Ihrer Eröffnungsrede der Salzburger Festspiele das Regietheater, das Sie anschließend lange boykottierte, frontal an. Hat sich an Ihrer damaligen Diagnose etwas geändert?

Kehlmann: Nicht grundlegend. Das deutschsprachige Theater ist so schwerfällig, sogar Nordkorea wird irgendwann eine Demokratie werden, aber auf Deutschlands Bühnen wird man dann immer noch herumbrüllen, outrieren und statt neuer Theaterstücke veränderte Klassiker und adaptierte Romane spielen.

STANDARD: Am 9. September halten Sie die Festrede des Brucknerfestes in Linz. Das Motto: "Was du ererbst von deinen Vätern". Worüber werden Sie sprechen?

Kehlmann: Das vorgegebene Thema lautet "Tradition". Das klingt zunächst wie eine Drohung. Ich werde mich aber bemühen, etwas zu sagen, was zwar keine Themenverfehlung, aber vielleicht doch etwas anders gelagert ist, als man es zunächst erwarten wird. (Stephan Hilpold, 2.9.2018)