Stephan F. K. Schaal, Krister T. Smith, Jörg Habersetzer (Hrsg.): "Messel: Ein fossiles Tropenökosystem", 355 Seiten, 393 Abbildungen, € 46,20. Schweizerbart'sche Verlagsbuchhandlung 2018. Das Buch ist in einer deutsch- und einer englischsprachigen Ausgabe erhältlich.

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Urpferde sind die inoffiziellen "Wappentiere" der Grube Messel: Nirgendwo auf der Welt hat man so viele Fossilien dieser Tiere gefunden wie hier.
Foto: APA/dpa/Claus Völker

Ein außerordentlich heißer Sommer ist gerade zu Ende gegangen – und er war nichts im Vergleich zu den Verhältnissen, die hierzulande vor 48 Millionen Jahren herrschten. Damals war Mitteleuropa noch ein Archipel von Inseln, die von Dschungel bedeckt waren. Bei Temperaturen, die auch im tiefsten Winter nie unter zehn Grad sanken, wimmelte es darin von Pflanzen, Insekten und Reptilien, deren Verwandte man heute nur noch in den Tropen findet.

Fremde Heimat

Die Säugetiere jener Zeit hätten uns seltsam angemutet – und waren im Schnitt recht klein. Im Schatten der Palmen und Baumriesen huschten nicht nur verschiedene Arten von Urpferden in Hundegröße herum. Da wären einem auch zwei zierliche Tiere mit langem Schwanz und Stelzenbeinen entgegengetrippelt: Eines davon ein früher Paarhufer (Messelobunodon), das andere ein Igel, der Fische fraß (Macrocanion tupaiodon) – größenmäßig lag zwischen diesen heute so unterschiedlichen Tiergruppen damals noch wenig Unterschied.

Mit keinem heute noch lebenden Säuger war das seinerzeit weit verbreitete Leptictidium verwandt, das wie die Miniaturausgabe eines Kängurus mit Rüssel durch Europa hüpfte. Und sich dabei vor Boas und allen Arten von Krokodilen in Acht nehmen musste, die den fragmentierten Kontinent bevölkerten – darunter auch Krokodile, die an Land lebten und auf "Hufen" liefen.

Ein Prachtkäfer hat seine Farben nach 48 Millionen Jahren immer noch nicht verloren – andere Insektenfossilien aus Messel schillern sogar noch mehr.
Foto: Senckenberg Forschungsinstitut

Ein neues Buch stellt uns diese fremde Welt mit all ihren Bewohnern nun im bislang umfassendsten Überblick vor. Für den Band "Messel. Ein fossiles Tropenökosystem" haben die Herausgeber vom Senckenberg-Forschungsinstitut 28 Wissenschafter versammelt, die uns eine der wichtigsten Fossilienfundstätten der Welt vorstellen. Die Grube Messel in Hessen ist in einem Atemzug mit dem Burgess-Schiefer, den Teergruben von La Brea und den Ediacara Hills zu nennen: All diese Orte sind Fenster in versunkene Erdzeitalter und liefern so viele Fossilien, dass man die damaligen Lebenswelten rekonstruieren kann.

In Messel wurde dies dadurch ermöglicht, dass der Wald um einen ehemaligen Vulkankrater wuchs, der sich mit Wasser gefüllt hatte. Lebensfreundliche Bedingungen bot dieser sogenannte Maarsee nur in seinen obersten Schichten. Was – aus welchen Gründen auch immer – durch sie hindurchsank, wurde im toten Wasser darunter nicht zersetzt, dafür aber unter herabrieselndem Sediment begraben und so für die Ewigkeit konserviert. Die sich daraus bildenden Schichten aus Ölschiefer wurden seit dem 19. Jahrhundert aus kommerziellen Gründen abgebaut – seit den 1970er Jahren jedoch nur noch wegen der darin enthaltenen Fossilien. Und die sind spektakulär gut erhalten.

Man staunt über eine Racke, die mitsamt flauschigem Gefieder und Federhaube so vollständig wirkt, als wäre es die Tuscheskizze eines heute lebenden Vogels statt ein 48 Millionen Jahre altes Fossil. Über dank Mikrotomografie möglich gewordene Detailansichten wie das Innenohr einer Fledermaus. Oder über Insekten, die durch Nanostrukturen auf ihrem Panzer heute noch in denselben Farben schillern wie damals. In Sachen Bebilderung würde man sich als Laie vielleicht noch ein paar mehr Zeichnungen mit Lebendrekonstruktionen der Tiere wünschen. Es ist aber nachvollziehbar, warum die Herausgeber in erster Linie Fotos der Fossilien für sich selbst sprechen lassen wollten. Insgesamt sind es fast 400 Abbildungen.

Eine erhalten gebliebene Nahrungskette: Die große Schlange Palaeophython fischeri hat eine Echse der Spezies Geiseltaliellus maarius (orange) verschlungen, welche ihrerseits noch ein Insekt (blau) im Magen hat.
Foto: Krister Smith

"Mitten aus dem Leben gegriffen" seien die Bilder, heißt es an einer Stelle, und das ist keine Übertreibung. Das Leben – etwa eine trächtige Stute der Pferdeart Eurohippus messelensis – wurde auf den "Schiefer-Schnappschüssen" ebenso festgehalten wie die zahlreichen Gesichter des Todes. Langgestreckte Körper eines Vogels und eines Raubtiers mit angelegten Gliedmaßen hatten ihre stromlinienförmige Haltung laut den Forschern aus einem ganz besonderen Grund angenommen: Sie waren von Riesenschlangen verschluckt und dann aus unbekanntem Grund wieder herausgewürgt worden.

Mageninhalte, die viel über die damaligen Nahrungsketten verraten, bekommen wir eine Menge zu sehen. Eine Sonderstellung nimmt dabei ein, was im Buch als "Matroschka" bezeichnet wird: das Fossil einer Schlange, die eine Echse gefressen hat, welche ihrerseits noch ein Insekt im Magen trägt. Der skurrilste Fall von "aus dem Leben gegriffen" dürfte aber wohl eine ganze Reihe von Schildkrötenfossilien sein, die paarweise konserviert wurden – in Kopulationsstellung. Offenbar sanken die ineinander verhakten Tiere im Liebestaumel in giftige Wasserschichten ab und erlebten mit dem kleinen auch den großen Tod.

Bild nicht mehr verfügbar.

Primaten wurden in der Grube Messel bisher nur wenige gefunden. Die 2009 entdeckte Spezies Darwinius masillae – Spitzname "Ida" – sorgte daher für Schlagzeilen.
Foto: AP Photo/Michael Probst

Der Band richtet sich gleichermaßen an ein Fachpublikum wie an paläontologisch interessierte Laien – und diesen Spagat merkt man auch. Für Fachleute liegt der Reiz sicher im hohen Grad an Vollständigkeit, zu dem die in Messel gefundenen Spezies vorgestellt werden. Es sind gewissermaßen serielle Kurzporträts.

Passagen, in denen die einzelnen Abstammungslinien und Verwandtschaftsbeziehungen anhand von anatomischen Details wie Zahnhöckern oder Hüftgelenken festgemacht werden, dürften von Laien vermutlich eher nur gescannt werden. Für Letztere gibt es aber neben den Beschreibungen der Lebensweise dieser Tiere auch jede Menge Schaukästen und erklärende Exkurse zu wichtigen Stichwörtern.

Prozesse der Taphonomie

Ein Stichwort, das man sich beim Lesen recht rasch zu Herzen nimmt, ist "taphonomisch", also bezogen auf den Prozess der Fossilienbildung an sich. Denn eine 1:1-Abbildung des damaligen Ökosystems sind die Schieferschichten trotz ihrer Fülle an Fossilien nicht. Nur unter ganz bestimmten Umständen konnten Tiere im See versinken – und dafür waren manche anfälliger als andere.

Kleine Vögel beispielsweise konnten ins Wasser geweht oder über Zubringerbäche in den See gespült werden. Entsprechend viele Fossilien kleiner Vögel hat man gefunden. In Messel lebte allerdings auch der mit den Gänsen verwandte Gastornis, der so hoch wie ein ausgewachsener Mensch wurde und vermutlich über eine Landbrücke via Grönland aus Nordamerika eingewandert war. Von ihm hat man bisher nur einen Knochen gefunden – die Tiere waren einfach zu groß, um auf die übliche Weise im See zu landen.

In den See gestürzt und samt Federkleid erhalten geblieben: der Messel- Segler Scaniacypselus szarskii.
Foto: Senckenberg-Forschungsinstitut

Ein weiterer taphonomischer Effekt gilt für Ameisen, zu denen auch die Art Titanomyrma gehörte, die gruselige fünf Zentimeter Länge erreichte. Von Ameisen wurden weit überdurchschnittlich viele geflügelte Exemplare gefunden – deshalb, weil sich flügellose Arbeiterinnen noch aus dem Wasser retten konnten, während es für Königinnen und geflügelte Männchen das Ende bedeutete, wenn sie nass wurden. Und letztlich ist es auch der Taphonomie geschuldet, dass Sex wie eine der Haupttodesursachen der Messel-Schildkröten wirkt.

Es wird noch mehr kommen

"Messel. Ein fossiles Tropenökosystem" beeindruckt mit dem Detailreichtum, in dem es die damalige Zeit wiederauferstehen lässt. Die Autoren räumen ein, dass – eben aufgrund besagter taphonomischer Prozesse – unser Bild von der damaligen Artenvielfalt etwas verzerrt ist. Unbestritten ist jedoch, dass sie wesentlich höher war als die heutige. Dabei ist sie noch nicht annähernd vollständig erfasst: Bereits im Vorwort wird verheißen, dass Messel noch für ganze Generationen von Forschern Stoff liefern dürfte. Die Ausgrabungen laufen weiter. (Jürgen Doppler, 1. 9. 2018)