Im Casino neben dem Festivalpalast hat man früher tatsächlich um Geld gespielt. Betuchte Lido-Urlauber fanden dort einen Zeitvertreib, wenn sie sich am Meer sattgesehen hatten. Heute sind darin einige kleinere Kinosäle verstaut, auch die Pressekonferenzen finden dort statt.

Gesellschaftliches Gefälle in Roberto Minervinis "What You Gonna Do When the World‘s On Fire". Der Regisseur begleitet in seinem Dokumentarfilm Mitglieder der New Black Panther Party und thematisiert das Leid, das Frauen auch innerhalb des Milieus erdulden mussten.
Foto: Okta Film

Der französische Regisseur Jacques Audiard nutzte am Sonntag die Gelegenheit, bei seiner eigenen eine Karte auf Gendergerechtigkeit zu setzen. Selbst im Wettbewerb vertreten, kritisierte er, dass nur eine Frau um den Goldenen Löwen mitkämpft.

"Ich habe meine Verwunderung darüber gegenüber den Kollegen in der Selektion ausgedrückt und hatte nicht das Gefühl, dass ich auf viel Resonanz gestoßen bin." Die Frage, die man sich stelle müsse, so Audiard, sei, ob auch Festivals ein Geschlecht haben, "und die Leute, die dort arbeiten". Die Antwort sei einfach: "Ja." Gleichberechtigung könne man zählen.

Für die Deutlichkeit seiner Worte ist Audiard Respekt zu zollen. Der wird auch dadurch nicht geringer, dass er mit dem Männergenre Western antritt, einer schön nuancierten Genrearbeit. Der Franzose, von dem das Gefängnisdrama Ein Prophet stammt, hat schon immer mit einem Auge nach Amerika geschielt, nun hat er dort seinen ersten Film The Sisters Brothers verwirklicht. Mit Joaquin Phoenix, John C. Reilly, Jake Gyllenhaal und Riz Ahmed hat er sich dafür einen Spitzencast aus Charaktergesichtern gesichert.

Ohne Milde

Es ist erstaunlich, wie geschmeidig der Film den Arche typen der Frontier einen Dreh verleiht. Die Brüder Sisters (Phoenix, Reilly) sind fiese Schurken, keine Frage, aber der Film bricht deren harte Schale allmählich auf. Die Dynamik ist für einen Western stark auf Dialoge konzentriert. Das ermöglicht den Figuren einen hohen Grad an komischer, aufwühlender Selbstreflexion.

Trailer zu "The Sisters Brothers".
Annapurna Pictures

Auch sonst bricht der Film mit dem Pioniergeist. Alle sind einem Chemiker mit einer heiß begehrten Formel hinterher, die schnellen Reichtum verspricht; der Film destilliert daraus eine Erzählung, der ohne Milde auf die Mängel einer Zivilisation blickt, in der Gier und Gewalt alles bestimmt.

Gegenwärtige Gefälle in den USA stehen hingegen in Roberto Minervinis Arbeit im Mittelpunkt, dem einzigen Dokumentarfilm in Konkurrenz. Der Italiener hat bereits in The Other Side weiße Su prematisten und militante Patrioten begleitet. In What You Gonna Do When the World’s On Fire widmet er sich nun einer schwarzen Community in Louisiana, die selbst Maßnahmen ergreift, um sich in einer gespaltenen Gesellschaft vor Übergriffen und Gewalt zu verteidigen.

Trailer zu "What You Gonna Do When The World's On Fire?"
Screen International

Man fühlt sich dabei in die 60er-Jahre zurückversetzt. Minervini begleitet Mitglieder der New Black Panther Party, die auf den Straßen mit "Black Power"-Rufen gegen die Gewalt agitieren. Aber der Film scheut auch nicht den Blick vor dem Leid, das Frauen in nerhalb des Milieus erdulden mussten.

Anhand zweier Teenager-Brüder, die von der harten Realität noch verschont blieben, zeigt er auf, was auf dem Spiel steht. Die Raffinesse dieses Regisseurs liegt darin, dass er der Wirklichkeit Schönheit entreißt, vielleicht sogar einen Rest Utopie. Bei der Viennale wird Minervini übrigens ein Special gewidmet sein.

Trailer zu Luca Guadagninos Remake von Dario Argentos Horrorfilm "Suspiria".
Amazon Studios

Nur wenige Filme an der Mostra zeigen sich ähnlich engagiert. Man gewinnt eher den Eindruck, die "Meister" ziehen sich ihren Kokon zurück. Als unerwartet politisch erweist sich jedoch Luca Guadagninos Remake von Dario Argentos Horrorfilm Suspiria aus dem Jahr 1977. Guadagnino verlegt in dieser Amazon-Produktion das Geschehen von München ins geteilte Berlin und webt die zeithistorischen Ereignisse des Deutschen Herbstes in das teuflische Geschehen in einer Tanzschule ein.

Der Spuk ist vorbei

Mit der Figur des Psychiaters Klemperer, der die Zeichensysteme durchschaut, gibt es auch eine neue Figur, die für die Traumata des Nationalsozialismus einsteht. Hinter dessen Maske vermuten manche Tilda Swinton, die auch eine der Hexen spielt.

Guadagninos Analogien bleiben opak, das Drama uneben. Dennoch ist es ein mutiger Schritt, einen Horrorfilm auf solche Art zu rekontextualisieren. Der Spuk geht dabei zwar ein wenig verloren, dafür legt sich der Schleier einer historischer Unheimlichkeit über den Film. Und große Darstellerinnen wie die Fassbinder-Aktrice Ingrid Caven sorgen dafür, dass die Hexen auch richtig feixen. (Dominik Kamalzadeh, 3.9.2018)