Libyen bleibt ein Pulverfass. In der Hauptstadt Tripolis und beim Flughafen liefern sich bewaffnete Gruppen seit zehn Tagen erbitterte Kämpfe. Über 50 Todesopfer und hunderte Verletzte sind zu beklagen. 1.800 Zivilisten haben die südlichen Viertel von Tripolis fluchtartig verlassen.

Der Gewaltausbruch in Tripolis, wo zwischen den Bürgerkriegsparteien bisher Waffenstillstand herrschte, war keine Überraschung. Die deutsche Stiftung Wissenschaft und Politik warnte schon im Frühsommer vor einem Showdown der paramilitärischen, meist auch mafiösen Milizen namens Rada, Ghneiwa, Nawasi oder Siebente Brigade. Gut bewaffnet und organisiert, sind sie auch ein politischer Machtfaktor: Die von der Uno gestützte Phantomregierung von Fayez al-Sarraj hängt völlig von ihnen ab, da sie selbst über keine Armee verfügt.

Flüchtlingsabkommen gefährdet

Der neu aufflammende Machtkampf um die Vorherrschaft in der Millionenstadt Tripolis bedroht sehr direkt die für Dezember geplanten Wahlen, die 2017 bei einer Konferenz unter der Schirmherrschaft des französischen Präsidenten Emmanuel Macron vereinbart worden waren. Gefährdet ist auch das libysch-italienische Abkommen, das die Flüchtlingsströme dank zusätzlicher Küstenpatrouillen stark eingedämmt hatte.

In die Brüche geht aber auch die Einheit der vier engagierten Westmächte USA, Großbritannien, Italien und Frankreich. Die Regierung in Rom wirft Paris vor, die bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen zu fördern. Innenminister Matteo Salvini twitterte am Montag, "jemand" stecke dahinter. Das sei "jemand, der aus nationalen Wirtschaftsinteressen die Stabilität Nordafrikas und damit auch Europas in Gefahr bringt".

Das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) warnt davor gewarnt, gerettete Migranten zurück nach Libyen zu schicken. Dort liefen die sie Gefahr, Opfer "schwerer Misshandlungen" zu werden.

"Teilschuld" Frankreichs an Kämpfen in Libyen

Gemeint ist Frankreich. Verteidigungsministerin Elisabetta Trenta nannte das Nachbarland auch namentlich, um ihm eine "Teilschuld" an den neuen Kämpfen zu geben. Ausformuliert lautet ihr Vorwurf: Nachdem der damalige französische Präsident Nicolas Sarkozy 2011 schon den desaströsen Libyen-Krieg ausgelöst habe, versuche Macron nun General Khalifa Haftar zum starken Mann Libyens aufzubauen. Dieser ostlibysche Warlord kooperiere mit dem französischen Energiekonzern Total; hingegen benachteilige er dessen italienischen Rivalen Eni, der in Libyen zehnmal mehr Rohöl fördert als Total.

Dass Paris stets auch seine Wirtschaftsinteressen im Blick hat und realpolitisch auf örtliche Potentaten setzt, wäre kein Novum. Trotzdem sind die Vorwürfe aus Rom absurd. Haftar ist nicht in die Kämpfe in Tripolis verwickelt; er setzt vielmehr auf die Wahlen am Jahresende, da er nicht nur im Ostteil des Landes populär ist – anders als der im Land isolierte Regierungschef Sarraj, den Italien mit Nachdruck unterstützt.

Französische Spezialeinheiten gegen IS aktiv

Paris verfolgt in Libyen letztlich das gleiche Ziel wie Rom, nämlich eine langfristige Kontrolle der Flüchtlingsströme. Bloß halten die Franzosen nicht den "offiziellen" Regierungschef Sarraj, sondern eine Autokratie unter Haftar für die beste Lösung. Wobei ihnen der General zuverlässiger als der frühere Diktator Muammar al-Gaddafi erscheint.

Die Vorwürfe Italiens an Frankreich zielen auch deshalb daneben, weil Paris in Nord- und Westafrika ein weiteres, übergeordnetes Ziel verfolgt – die Eindämmung der Terrororganisation "Islamischer Staat". Gegen sie sind in Libyen vermutlich französische – und auch amerikanische – Spezialeinheiten im Einsatz, wie 2016 der Abschuss eines französischen Hubschraubers bei Benghazi offenbarte.

Beschwichtigung aus Paris

Das Außenministerium in Paris weist die Anschuldigungen aus Rom deshalb entschieden zurück. "Die Anstrengungen Frankreichs sind gegen niemanden gerichtet, sicher nicht gegen Italien", beschwichtigte das Ministerium am Dienstag.

In New York war am Mittwoch eine Sitzung des Uno-Sicherheitsrats zu Libyen geplant. Am Vorabend hatten die Milizen eine Waffenruhe ausgerufen, doch scheint sie nicht eingehalten zu werden. Die Kämpfe sind jedenfalls ein schlechtes Omen für die geplanten Wahlen. (Stefan Brändle, 5.9.2018)