Die österreichische Inflationsrate befindet sich auf einem sehr niedrigen und stabilen Niveau.

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Hohe Inflationsraten", eine "kalte Enteignung sparender Bürger" und einen "auf der Strecke bleibenden Mittelstand" beklagt Beate Meinl-Reisinger ("Mahrer – Posten, Positionen, Staatsfinanzen"), und sie fordert einen "schnellen Kurswechsel bei der EZB". Sie schlägt damit in die Kerbe prominenter Eurogegner wie etwa des deutschen Ökonomen Hans-Werner Sinn, der seit Jahren auf breiter Front gegen die Geldpolitik der Eurozone Sturm läuft. Beiden gemeinsam ist nicht nur die polemische Wortwahl, sondern auch das Fehlen überzeugender Belege ihrer Behauptungen.

Tatsächlich befindet sich die österreichische Inflationsrate sowohl historisch als auch im internationalen Vergleich auf einem sehr niedrigen und stabilen Niveau. Die heimischen Verbraucherpreise im Juli 2018 waren laut Statistik Austria um 2,1 Prozent höher als im Juli 2017. Die Inflationsrate entspricht also annähernd perfekt dem von der EZB angestrebten Ziel von knapp unter zwei Prozent, welches viele Ökonomen als wirtschaftlich gesund erachten. Zudem ist die heimische Inflation niedriger als in den Nicht-Euro-Ländern Großbritannien (2,3), den USA (3) oder Russland (2,5 Prozent). Von "hohen Inflationsraten" kann also hierzulande keine Rede sein.

Um ihrem Inflationsziel möglichst nahezukommen, wozu sie gemäß ihrem Mandat verpflichtet ist, hat die EZB die Leitzinssätze im Zuge der globalen Wirtschaftskrise deutlich gesenkt. Derzeit befindet sich der Hauptrefinanzierungszinssatz in der Eurozone bei null Prozent und ist dennoch höher als etwa in der Schweiz, Japan oder Schweden, deren Leitzinsen sich im negativen Bereich befinden. Ziel der Nullzinspolitik ist es, "Anreize für mehr Konsum und Investitionen zu schaffen, das Wirtschaftswachstum anzukurbeln und wieder eine mittelfristige Inflationsrate von unter, aber nahe zwei Prozent zu erreichen", legt etwa die Nationalbank dar. Die aktuelle Wirtschaftsentwicklung legt nahe, dass dieses Ziel erreicht wurde: Das reale Bruttoinlandsprodukt in Österreich wuchs 2017 um 3,2 Prozent, für 2018 erwarten Wirtschaftsforscher eine ähnlich kräftige Expansion.

Negative Realzinsen

Die Kehrseite: Trotz niedriger Inflationsraten sehen sich Sparer negativen Realzinsen gegenüber. Historisch betrachtet ist das nicht ungewöhnlich, die Realzinsen waren in Österreich seit 1960 zumeist negativ. Dennoch stoßen sich Kritiker daran, dass Sparbucheinlagen im Zeitverlauf an Kaufkraft verlieren, und sprechen gar von einer "kalten Enteignung des Mittelstands" durch die EZB. Führt man sich jedoch die Größenordnung der "Belastung des Mittelstands" vor Augen, erkennt man schnell, dass der Begriff der Enteignung weit überzogen ist.

Der Mittelstand, definiert nach dem französischen Ökonomen Thomas Piketty als diejenigen Haushalte, deren Nettovermögen zwischen der fünfzigsten und neunzigsten Perzentile der Vermögensverteilung liegt, verfügt in Österreich laut Household Finance and Consumption Survey, einer Erhebung zur finanziellen Situation und zum Konsum der Haushalte, über ein durchschnittliches Nettovermögen von etwa 266.000 Euro. Der Großteil davon ist Sachvermögen wie beispielsweise das Eigenheim, das Kraftfahrzeug oder Schmuck (246.000 Euro). Das Finanzvermögen (Sparbuch, Bausparvertrag, Aktien etc.) entspricht im Schnitt etwa 44.000 Euro bei gleichzeitiger Verschuldung von 24.000 Euro.

Realzinsniveau

Ein um zwei Prozentpunkte niedrigeres Realzinsniveau kostet – unter der Annahme, dass sich dieses gleichermaßen auf Einlagen und Kredite niederschlägt – den durchschnittlichen Mittelstandshaushalt unter Berücksichtigung der Kapitalertragsteuer 660 Euro an Zinseinnahmen jährlich und reduziert seine Kreditzinszahlungen um 480 Euro. In Summe entgehen dem Haushalt also 180 Euro jährlich, das ist deutlich weniger als etwa die GIS-Rundfunkgebühr kostet. Im Vergleich zur Steuerbelastung ist dieser Betrag so gering, dass von einer "Enteignung" sicherlich keine Rede sein kann. Umso mehr wenn man die positiven Effekte der Niedrigzinspolitik auf den Mittelstand berücksichtigt, etwa den leichteren Zugang zu günstigen Krediten oder ein reduziertes Arbeitslosigkeitsrisiko durch die Konjunktur.

Über kurz oder lang wird die EZB aufgrund positiver Wachstumsaussichten und einer stabilen Inflationsrate die Zinsen anheben – mit Bedacht, um die Konjunktur nicht zu gefährden. Das Gerede von der "Enteignung des Mittelstands" und Forderungen nach einem "schnellen Kurswechsel" sind ökonomisch nicht gerechtfertigt und schüren lediglich Ressentiments gegen eine der wenigen gut funktionierenden Institutionen der EU. Das mag im Sinn eines vehementen Eurogegners sein, ist jedoch nicht im Interesse der österreichischen Wirtschaft. (Paul Pichler, 6.9.2018)