Ein Äquivalent zu den 4500 Seiten, die Autor Karl Ove Knausgård der Durchdringung der eigenen Lebenswirklichkeit gewidmet hat, gibt es im Kino zwar noch nicht. Doch auf der Mostra in Venedig kann man gerade erleben, dass diese Form der persönlichen Selbstbespiegelung auch im Autorenkino langsam populär wird. Das private Umfeld als Ausgangspunkt der Welterfahrung erspart einem zumindest, an einem großen Thema zu scheitern. Scheitern kann man höchstens an sich selbst.

Auch Hornvieh macht Mist: In "Nuestro tiempo" verkörpert Regisseur Carlos Reygadas einen Autor und Rinderzüchter, der moralisch über seine Verhältnisse lebt.
Foto: Reygadas

Der mexikanische Regisseur Carlos Reygadas kennt sich da schon aus. In seinem letzten Film Post Tenebras Lux hat er seine Rolle als Liebhaber, Ehemann und Vater semiautobiografisch verarbeitet und dafür den Regiepreis in Cannes bekommen. In Nuestro tiempo (Our Time) geht er nun noch einen Schritt weiter auf Knausgård zu, weil er die zentrale Figur, den Schriftsteller Juan, gleich selbst verkörpert; auch Frau und Kinder sind dieselben wie im richtigen Leben, sogar die Rinderranch, in der das Drama angesiedelt ist, gehört ihm.

Der Film blickt ins versteckte Chaos einer Ehe. Beinahe drei Stunden lang ringen die Partner mit den Folgen der Aufrichtigkeit innerhalb ihrer offenen Beziehung. Ester (Natalia López) hat eine Affäre mit einem Pferdeflüsterer, von der sie Juan nicht sofort erzählt; die Heimlichtuerei wertet der geprellte Ehemann als Vertrauensbruch. Das könnte schnell einmal banal werden, doch Reygadas gelingt es immer wieder verblüffend gut, Privates in Grundsätzliches zu übertragen. Er interessiert sich dafür, was man sich theoretisch erlaubt, praktisch aber nicht zu erfüllen vermag; und damit für eine übersteuerte Maskulinität, die einfach nie loszulassen vermag.

Trailer zu "In Nuestro tiempo (Our Time)".
CINEGardens: Indie Film Trailers

Dass sich Reygadas als ein Ehemann ins Bild setzt, der bisweilen wie ein lächerlicher Stalker wirkt, erscheint wie ein Bekenntnis, aber wer weiß? Als Filmemacher probiert er stilistische Ausdrucksformen durch, er will auch von den Engpässen der Kommunikation erzählen. Besonders nachhaltig brennen sich jedoch die Bullen der Ranch ins Gedächtnis ein: ein eindeutiger, aber dennoch eindrucksvoller Stellvertreter des "gehörnten" Ehemanns.

Dass Männer auch Freunde sein können, beweist dagegen der Argentinier Gastón Solnicki in einer poetischen Selbstbetrachtung, die auch einen starken Wien-Bezug aufweist. Solnicki war oftmals Gast der Viennale und freundete sich dabei mit deren 2017 verstorbenen Direktor Hans Hurch an. In Introduzione all’oscuro erweist er ihm nun Reverenz.

Trailer zu "Introduzione all’oscuro".
Film Society of Lincoln Center

Es handelt sich um eine Hommage, die vor allem in die Lebenswelt "seines flamboyantesten Freundes" führt. Schriftliche Korrespondenzen sind über Ansichtskarten enthalten, außerdem hört man Hurchs Stimme, zu sehen ist er allerdings nur auf Fotografien. Ein gelungenes Mittel, um die Präsenz des Verstorbenen in der Schwebe zu halten. Solnicki will Hurch erinnern, aber nicht unbedingt den Zuschauern näherbringen. Er filmt die Stadt seines Freundes – vom Café Einstein bis zum Gartenbaukino, von der Schneiderin bis zum Konfektmacher. Wer den Viennale-Direktor nicht so gut gekannt hat, wird den Film wohl eher wie ein persönliches Reisetagebuch sehen.

Schattenwirtschaft in Wien

Mit Joy feierte noch eine österreichische Produktion in einer Nebenschiene Premiere. Wie schon in ihrem Spielfilmdebüt Macondo arbeitet Regisseurin Sudabeh Mortezai mit Laiendarstellern, um von einer Schattenwirtschaft zu erzählen, die dokumentarisch kaum darstellbar wäre. Der Film befasst sich mit dem Menschenhandel und der Prostitution nigerianischer Frauen in Österreich, indem Szenen aus deren Alltag nachentworfen werden.

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Filmladen Filmverleih

Joy erzählt eine Geschichte mit exemplarischem Charakter. Die Titelheldin ist eine der erfahrenen Sexarbeiterinnen, die die neu angekommene Precious an der Hand nehmen soll. Wie alle anderen wurde auch Precious unter Vortäuschung falscher Tatsachen nach Wien gelockt, muss sich aber nun in die Zwangsökonomie einfügen. Die Möglichkeiten, sich zu widersetzen, sind beschränkt. Am lebendigsten sind jene Momente eingefangen, in denen die Frauen unter sich sein dürfen. Eine Überfahrt, die Joy und Precious mit der heimischen Krampuskultur konfrontiert, verkehrt raffiniert das Exotische ihrer Situation. (Dominik Kamalzadeh, 6.9.2018)