Wien – Nur wenige Tage nach dem Inkrafttreten des neuen Arbeitszeitgesetzes steht die türkis-blaue Regierung weiterer Kritik aufgrund der neuen Regelung gegenüber. Der Dachverband der europäischen Dienstleistungsgewerkschaften wandte sich am Montag in einem offenen Brief an Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP): Mit der Einführung der 60-Stunden-Woche habe die Regierung mit dem Prinzip der Sozialpartnerschaft gebrochen, heißt es darin. "Die Entwicklung in Österreich ist für alle Gewerkschaften Europas besorgniserregend", sagte Oliver Röthig, Generalsekretär des Dachverbandes, bei einer Pressekonferenz.
Das neue Gesetz, das laut Röthig "auf Bestellung der Industrielobby und der Konzerne in einer Nacht-und-Nebel-Aktion durch das Parlament gepeitscht" wurde, habe starke Auswirkungen auf das Leben der Beschäftigten. Österreich setze damit gerade während der EU-Ratspräsidentschaft "ein Negativbeispiel gegen ein soziales Europa".
"Wunschkonzert für Industrie und Konzerne"
Ähnlich scharfe Worte fand die Chefin der Gewerkschaft der Privatangestellten (GPA), Barbara Teiber: Kurz gehe "weg vom Pfad der Sozialpartnerschaft, hin zum Wunschkonzert für Industrie und Konzerne". Österreichs Vollzeitbeschäftigte befänden sich im EU-Vergleich bei den Arbeitsstunden bereits jetzt im Spitzenfeld. Das mit 1. September in Kraft getretene Gesetz würde die Jahresarbeitszeit um 96 Stunden erhöhen, so Teiber: "Das sind im Durchschnitt zwei Stunden mehr pro Woche." Derzeit schütze lediglich die EU-Arbeitszeitrichtlinie Arbeitnehmer davor, "unbegrenzt 60 Stunden pro Woche zu arbeiten".
Laut der GPA-Chefin sind seit Monatsbeginn bereits einige Rückmeldungen von Arbeitgebern bei der Gewerkschaft eingegangen. Demnach wurden die Betriebe von ihren Interessenvertretungen dazu aufgefordert, die Möglichkeiten des neuen Gesetzes nicht auf die Schnelle auszuschöpfen. Vor den anstehenden Kollektivvertragsverhandlungen würde das Thema zu viel "Öl ins Feuer gießen".
Trend zu flexibleren Arbeitszeiten
Wie aus einer bei der Pressekonferenz vorgestellten Studie hervorgeht, ist die Arbeitszeit für Beschäftigte in den vergangenen Jahren in Europa nicht kürzer geworden. Es gebe jedoch einen eindeutigen Trend zu flexibleren und atypischen Arbeitszeiten.
In ganz Europa unterscheiden sich die Wünsche der Arbeitnehmer und der Arbeitswirklichkeit, sagte Studienautor Roland Schneider: 57 Prozent der befragten Männer, die zwischen 41 und 47 Stunden pro Woche im Job sind, würden lieber weniger arbeiten. Dem gegenüber stünden viele Teilzeitbeschäftigte – vor allem Frauen –, die länger arbeiten wollen. In der Umfrage haben sich 42 Prozent der Frauen, die für weniger als 20 Stunden pro Woche angestellt sind, dafür ausgesprochen, mehr zu arbeiten. Bei Frauen in Vollzeitbeschäftigung wollten hingegen nur sechs Prozent ihre Arbeitszeit reduzieren. (lauf, 10.9.2018)