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Viktor Orbán in Straßburg

Foto: REUTERS/Vincent Kessler

Seit Montagabend tagten die insgesamt 751 Abgeordneten des EU-Parlaments zum Auftakt der "Herbstsaison" an ihrem Stammsitz in Straßburg. Statt ausgeruht aus dem Sommer wieder an die Arbeit zu gehen, standen die meisten Fraktionen aber von Beginn an politisch unter Hochdruck. Anlass dafür war aber nicht die für Mittwoch vorgesehene Rede zur "Lage der Union" von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, seiner letzten "Regierungserklärung" vor den EU-Wahlen im Mai 2019. Vielmehr sorgte Viktor Orbán für erhöhten Blutdruck, und die für Dienstagnachmittag vorgesehene Debatte über den Bericht des Rechtsausschusses (Libe) zu Ungarn lieferte den Fraktionen Stoff für aufgeregte Vordebatten.

Der Bericht schlägt, wie berichtet, die Einleitung eines Verfahrens nach Artikel 7 der EU-Verträge vor, welches – wenn es die Staats- und Regierungschefs am Ende beschließen würden – den Entzug der Stimmrechte der ungarischen Regierung in EU-Ministerräten vorsieht. Auf 79 Seiten werden penibel dutzende Verstöße gegen EU-Recht und Grundrechte seit 2010 aufgelistet. Bisher hat in der Geschichte nur die EU-Kommission ein solches Verfahren angestoßen: gegen Polen wegen "wiederholter, dauernder schwerer Verstöße der Regierung gegen das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit.

Das EU-Parlament hat das noch nie gemacht. Umso fraglicher war, ob es im Plenum überhaupt gelingen wird, die dafür nötige Zweidrittelmehrheit bei der Abstimmung am Mittwoch zu erreichen. Die schien nicht sicher, obwohl Sozialdemokraten, Linkspartei, Liberale und Grünen entschlossen waren, dafür zu stimmen. Zünglein an der Waage wird die EVP-Fraktion mit ihren 219 Abgeordneten sein. EVP-Fraktionschef Manfred Weber hat am Dienstagabend nach einer Fraktionssitzung in Straßburg angekündigt, am Mittwoch für ein EU-Rechtsstaatverfahren gegen Ungarn zu stimmen; auch die ÖVP-Abgeordneten wollen für ein EU-Verfahren gegen Ungarn stimmen.

Einigkeit gibt es in der EVP nicht darüber, es herrscht kein Fraktionszwang. Klargestellt wurde am Dienstagabend auch, dass die EVP Orbáns Partei Fidesz nicht vor die Tür setzen wird – zwischen ihr und den konservativen Parteien herrsche "Burgfrieden".

Orbàn zu spät

Als Parlamentspräsident Antonio Tajani die Sitzung zu Ungarn eröffnete, gab es jedoch eine Überraschung. Viktor Orbán war nicht da. Er schlenderte mit einigen Minuten Verspätung in den Saal, als die Berichterstatterin bereits ihr Anliegen vortrug. "Ich glaube, das ist kein guter Einstieg", sagte sie Richtung Orbán. "Ich hätte Ihnen gerne die Hand gegeben, aber dazu ist es jetzt zu spät." Dieser sollte sie auch nicht enttäuschen, nachdem zuvor noch Staatssekretärin Karoline Edtstadler seitens des österreichischen EU-Vorsitzes erklärt hatte, dass es bei Grundrechten keinerlei Abstriche geben dürfe.

Orbáns Rede mit englischen Untertiteln.
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Aggressive Rede

Der ungarische Ministerpräsident hielt eine kurze, aber umso aggressivere Rede. Er sei bisher immer zu Dialog bereit gewesen, sagte er, aber nun wolle man "mit Lügen" sein Land abstrafen. Es werde "die Ehre der Ungarn verletzt", die sich als Freiheitskämpfer gegen den Kommunismus für die Demokratie eingesetzt hätten, so der Premier. Für die EU-Partner werde es eine "schwere Last sein", wenn sie den Ungarn ihr Recht auf Mitentscheidung nehmen wollten. "Die Ungarn" hätten eine andere Auffassung von Familie, Christentum, von Migration. Nun würden "Sozialisten" nur neidig sein auf seine Erfolge.

Orbán machte keinerlei Anzeichen eines Einlenkens. Nach ihm kamen die Chefs der Parlamentsfraktionen zu Wort. EVP-Chef Manfred Weber hielt dem Parteifreund drei konkrete Beispiele vor, wie er die Zivilgesellschaft in Ungarn schwäche. SP-Fraktionschef Udo Bullmann sagte, die Orbán-Regierung sei inzwischen "das korrupteste System" in der ganzen EU, ein Drittel der EU-Subventionen flössen in die Taschen von Orbán-Vertrauten. So wie die Grünen sprach er sich klar dafür aus, das Prüfverfahren gegen Ungarn einzuleiten.

Das Budapester Regierungssprachrohr "Magyar Idök" stellte auf seiner Webseite die rhetorische Frage in den Raum: "Spielt Soros mit Kurz seinen letzten Trumpf aus?" Tatsächlich eruierte das Blatt einen Zusammenhang, in dem der Orbán untreu gewordene österreichische Bundeskanzler und der liberale US-Milliardär George Soros gemeinsam aufscheinen: Beide sind unter den 270 Mitgliedern des European Council on Foreign Relations (ECFR). Dabei handelt es sich um einen 2007 gegründeten paneuropäischen Thinktank, der für seine Expertisen anerkannt ist. (Thomas Mayer aus Straßburg, Gregor Mayer aus Budapest, 11.9.2018)