Kleines, oberflächliches Psychogramm einer verunsicherten Gesellschaft: Juli Zeh.

Foto: Thomas Müller

Die deutsche Mittelschicht auf Urlaub, da gehen Klischees auf Gedankenfahrten. Wohin zieht es den einigermaßen Gebildeten, die leicht Kunstsinnige? Zu Weihnachten, über Silvester liegen die Kanaren hoch im Kurs, Lanzerote bietet den Beigeschmack befristeten Aussteigertums. Die Neujahrsvorsätze machen in Aktionismus, der Sport der mittleren Jahre gehört zu den sozialen Anforderungen. Setzt sich der Körper in Bewegung, bringt der Kopf Gedanken und Erinnerungen ins Laufen.

Diesem Handlungsmuster folgt Juli Zeh im Roman "Neujahr". Ihrem literarischen wie ökonomischen Erfolg "Unterleuten" (2016) – einem in Anordnung und Stimmen der Erzählung faszinierenden Panorama nordostdeutschen Landlebens – schickt sie nun einen schmalen Band hinterher, der auf die Weiten des Urlaubs und die Enge geplagten mittelständischen Familienlebens abzielt.

Henning hat mit seiner Frau Theresa und den beiden Kleinkindern auf Lanzerote ein Haus gemietet. Am ersten Ersten setzt er sich aufs Rad, trotz mangelnden Trainings, schlechter Ausrüstung und störenden Windes will er ins Bergdorf Femés. Ohne Proviant, ohne Wasser quält er sich die steile Steigung hinauf, während er eine Lebensbilanz abkurbelt.

Unter der Oberfläche des Funktionierens kommt er mehr und mehr auf Überforderung und Unsicherheit, vor allem auf die Panikattacken, denen er in letzter Zeit ausgesetzt ist. Sie zu verdrängen, nicht beim Namen, sondern nur "ES" zu nennen, hilft nicht.

Verdrängungsleistung

Mit dem Verdrängen ist ein Thema angeschlagen, das in die Kindheit zurückreicht. Als Henning unter größten Mühen den Berg geschafft hat, ist er geschafft. Und ist sich plötzlich gewiss, den Blick von oben auf Femés, von einer sonderbaren Villa hinunter, aus frühen Jahren zu kennen.

Eine gastfreundliche Deutsche, die hier in Abgeschiedenheit von ihrer Kunst lebt, verköstigt den Erschöpften, zeigt ihm das Anwesen. Auch die Wand voller Spinnen und die bemalten Steine lassen Erinnerungen aufsteigen, bis Henning in ein dunkles Loch seiner Vergangenheit schaut, in ein tiefes Kindheitstrauma.

Derartige Geschichten kennt man. Die übliche Handlungsschiene verlässt Juli Zeh kaum, sie verbleibt über weite Strecken im Genre haften. Der Verlagslektor Henning und die Steuerberaterin Theresa sind durchschnittliche Charaktere mit durchschnittlichen Problemen. Sie stehen für Mittelschicht-Bobos, natürlich müssen sie im mittelstädtisch akademischen Göttingen wohnen.

Natürlich fahren sie nach Lanzerote, obwohl sie dabei der "Dauerzugriff der Kinder" anstrengt, dem sie zu Hause weniger ausgesetzt sind: "Vom Urlaub werden sie sich in ihren Jobs erholen." Ihr Schlüsselwort ist "funktionieren", sie argumentieren es nur tautologisch. Als Gegenbild dient Hennings ungebundene Schwester, natürlich muss sie Luna heißen, Schriftstellerin werden wollen, aber eine Schreibkrise erleiden.

Natürlich ist der Verführer bei der Silvesterfeier ein Franzose, natürlich hat die Künstlerin auf dem Berg einen "französischen Zopf", natürlich sind das gruselige Element die hunderten Spinnen.

Kinderperspektive

Ihrem Paar legt Juli Zeh entsprechende Phrasen in den Mund ("im kommenden Jahr soll alles anders werden"), sie ist um einen einfachen Duktus kurzer Sätze und simpler Gedanken bemüht. Dies mag zwar die Charaktere ins Exemplarische rücken, lässt jedoch die literarische Distanz vermissen. Die personale Er-Perspektive bedingt ja eine Erzählinstanz, die platte Gedanken der Figuren nicht platt wiedergeben muss. Da hat Henning Panikattacken – und denkt seicht in des Erzählers Worten: "Manchmal glaubt er, dass mit seinem Leben etwas nicht stimmt."

Zudem ist die Sprache des Romans oft unpräzise, mitunter schlicht falsch wie "die dreieckige Form des männlichen Rückens" oder: ein "Mann im Urlaub auf einem Rad, im Kampf gegen den Wind" sei "urzeitlich" (Urlaub und Fahrräder in der Urzeit?). Manches klingt wie im Prospekt (eine "Straßenführung" beginnt zu "verlaufen"), die offenbar zentrale Frage wie Küchenpsychologie: "Wird unser Leben bereits in der Kindheit vorherbestimmt – oder sind wir selbst es, die über Glück und Unglück entscheiden?"

Im zweiten Teil überwiegt zwar eine der Kinderperspektive gemäße Sprache, jedoch auch hier nicht ohne unnötige Phrasen. Und wie im Genrefilm kommt schließlich die Rettung ausgerechnet in letzter Sekunde, und die Lösung des Rätsels wirkt so bemüht konstruiert wie der ganze Roman.

Mit der Häufung von Klischees und den Gefühlswallungen, die unversehens von Wut zu Demut und von Panik zu Scham wechseln, legt Juli Zeh diesmal nur ein kleines, oberflächliches Psychogramm einer verunsicherten Gesellschaftsschicht vor. Der Mittelstand leidet am Kindheitstrauma des Alleingelassenseins.

Umso mehr wirft sich der Verlag ins Zeug. Für seinen Spitzentitel setzt er gemäß der jüngsten Börsenvereinsstudie auf Event und kündigt ein "Großes Gewinnspiel für Endkunden und Buchhändler" an. Vermutlich wäre den Kunden am Ende bessere Literatur lieber. (Klaus Zeyringer, 15.9.2018)