Illustration: Wolfgang Schüssel

"Schreiben wollte ich für Euch ohnehin nicht", sagt Wolfgang Schüssel. "In einer Zeichnung kann man sehr plastisch herzeigen, wie Österreich in 100 Jahren aussehen könnte." Diese Zeichnung hat der ehemalige Bundeskanzler für den Schwerpunkt "100 Jahre Republik" des STANDARD nun angefertigt – mit überraschenden Details.

Zur Übergabe sitzt Schüssel in seinem Büro in der Wiener Innenstadt und zieht seinen Lieblingszeichenstift, einen fein schreibenden Kugelschreiber, aus der Tasche. Während des Gesprächs mit dem STANDARD verschönert er so ganz nebenbei seine ursprünglichen Skizzen ein wenig, mit geübtem Strich.

Hinter ihm, über die gesamte Länge der Bürowand, hängt ein Scherenschnitt der österreichischen Künstlerin Anna Stangl. Eine Jagdszene mit vielen Details, Vögeln, Federn, Blättern – so präzise und genau, wie auch Schüssel sie zeichnen könnte, wenn er wollte.

Für den STANDARD wollte er aber keine Tiere, sondern ganz andere Szenen zu Papier bringen. Im Sommerurlaub am Wolfgangsee stellte Schüssel Überlegungen an, wie Österreich in 100 Jahren aussehen, wie es in der Welt dastehen, wofür es stehen könnte. Von Visionen will der ehemalige Kanzler dabei aber nicht sprechen: "Das alles sind Themen, die konkret auf dem Tisch liegen, da könnte man sofort mit der Umsetzung beginnen." Es sind, wie man sehen kann, durchaus diskussionswürdige Themen.

Als erstes Stichwort sei ihm "Wasser" in den Sinn gekommen. Schüssel stellt sich Wien bereits 2028, also in zehn Jahren, als Sitz einer neu gegründeten "Wasser-Opec" vor, die dann auch von Österreichs erster Bundespräsidentin (!) eröffnet wird.

Etwas länger, bis 2030, dauert aus seiner Sicht die Umsetzung eines Plans, den er bereits als Wirtschaftsbund-Obmann gehegt habe, "für den sie mich damals ausgelacht haben": den Bau getrennter Trinkwasser- und Brauchwasserleitungen. Die Skizzen dazu dauerten deutlich kürzer: eine Welle für die Wasser-Opec, Wasserhahn und Kloschüssel für getrennte Wasserleitungen, "fertig in zehn Minuten", sagt Schüssel.

Während des Gesprächs mit dem STANDARD verschönert der ehemalige Bundeskanzler seine eigenen Skizzen: "Alles wäre umsetzbar, nichts ist unmöglich."
Foto: Regine Hendrich

Wer ihm beim Zeichnen zusieht, registriert vor allem die professionell wirkende Linienführung, die Sicherheit und Leichtigkeit, mit der Schüssel zeichnet – erst die Umrisse auf dem Originalblatt, später wird die Kopie mit Aquarellfarben koloriert.

Schüssel sieht sich selbst beim Zeichnen als "Dilettanten im wahrsten Sinn des Wortes". Das ist eine neckische Untertreibung, immerhin lebte der spätere Bundeskanzler als Jusstudent von Zeichnungen und Karikaturen, die er für die konservative Studentenzeitung und die "Furche" entwarf.

Allein bei der ÖVP-Parteizeitung "Neues Volksblatt", wo er sich als Student in den 1960er-Jahren für die Stelle des Hauskarikaturisten bewarb, blitzte Schüssel ab – nicht wissend, dass dessen Chefredakteur mit seinem Vater, einem Sportjournalisten, verfeindet war. Schüssel legte vorübergehend Bleistift und Pinsel nieder und heuerte in der Jugendredaktion von Ö1 an, wo er Kollegen wie Wolfgang Kos oder Franz (André) Heller begegnete.

Wer ihm beim Zeichnen zusieht, registriert vor allem die professionell wirkende Linienführung.
Foto: Regine Hendrich

Als Kanzler der umstrittenen schwarz-blauen Koalition war er vor allem selbst oft Ziel der Karikaturisten, deren Kunst er trotz aller innewohnenden Kritik immer geschätzt habe, wie er betont. Schüssel selbst zeichnete in dieser Zeit besonders gerne in Ministerratssitzungen oder Konferenzen. Er habe das nie aus Langeweile gemacht, beteuert er – "eher wenn ich inspiriert wurde".

Gerade war er in Italien, bei einer Konferenz der Ambrosetti-Stiftung, einem italienischen Thinktank. Auch da zeichnete er – all die "Gespenster", vor denen Europa sich derzeit fürchte: von Trump über China bis hin zu Migration und Klimawandel.

Inspiriert hat Schüssel auch die Aufgabenstellung des STANDARD, zum 100-Jahr-Jubiläum der Republik auch 100 Jahre nach vorn zu schauen. Elf verschiedene "Anregungen" hat der Karikaturist Schüssel (Markenzeichen: der schwarze Rabe) dabei zu Papier gebracht.

Am wichtigsten erscheint ihm selbst, dass aus Europa ein NEUropa werden möge – und die zwölf Sterne auf der EU-Fahne künftig für die zwölf wichtigsten Zukunftsaufgaben des Kontinents repräsentieren. Darunter finden sich nicht nur "freie Medien", "sichere Lebensmittel" oder der zurzeit so oft zitierte "Schutz der Außengrenzen".

Elf verschiedene "Anregungen" hat der Karikaturist Schüssel (Markenzeichen: der schwarze Rabe) zu Papier gebracht.
Foto: Regine Hendrich

Schüssel denkt auch an ein EU-Friedenscorps, eine Digitalunion, eine europäische Verteidigungspolitik und mehr Geld für Forschung und Entwicklung. Ihm schwebt auch ein "EWR Mittelmeer" vor, eine breit angelegte Partnerschaft europäischer und afrikanischer Städte – und eine europäische Finanztransaktionssteuer.

Ein weiteres Thema, für ihn umsetzbar bereits 2038, ist die Entwicklung einer "EU-Seidenstraße". Erstmals las er darüber im STANDARD, der über eine diesbezügliche Studie des Wiener Instituts für Internationale Wirtschaft (WIIW) geschrieben hatte.

Weitere Themen des Politikers Schüssel, skizziert vom Zeichner Schüssel: eine etwas eigenwillige Lösung der Verkehrsproblematik; Gründung einer technischen Uni in Linz und eines "Kultur-Davos" in Salzburg; Schaffung des "Phyto-Valley Tirol", in dem Experten die Wirkstoffe heimischer Pflanzen erforschen und damit die Innovationskraft des Silicon Valley weit übertreffen; die Planung einer neuen Stadt auf dem Reißbrett.

Eine Vision hat der begeisterte Fußballer Schüssel dann doch in seine Zeichnung der Möglichkeiten eingebaut: Österreich wird Fußball-Europameister. Leider erst 2056. (Petra Stuiber, 15.9.2018)