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Die New Yorker Zentrale von Lehman Brothers am 15. September 2008: Damals ging mehr als eine Investmentbank unter.

Foto: AP / Mark Lennihan

"Die Lehman-Pleite kann sich nicht wiederholen" und "Die Lehman-Pleite kann jederzeit wieder geschehen" sind die beiden am häufigsten aufgestellten Thesen am zehnten Jahrestag des größten Kollapses der US-Bankengeschichte. Auf der einen Seite stehen die meisten Banker und Vertreter der Aufsichtsbehörden, die auf das dichte Netz von Regulierungen, Kapitalerfordernissen und Stresstests verweisen, die das Bankensystem seit dem September 2008 viel sicherer gemacht haben.

Und tatsächlich ist es unvorstellbar, dass sich Banken wieder auf diese Weise verschulden und in so riskante Anlageformen wie die damaligen Immobilienpapiere investieren, über die sie so wenig wissen. Der Wahnsinn in den amerikanischen und europäischen Finanzmärkten – schließlich waren europäische Institute die Hauptabnehmer dieser giftigen Wertpapiere – wird sich so nicht wiederholen.

Verschuldung ist weiter gestiegen

Die Pessimisten aber verweisen darauf, dass die Verschuldung seither noch weiter gestiegen ist, angeheizt durch die jahrelange Nullzinspolitik und Geldschwemme der Notenbanken, und dass die finanziellen Risiken sich von den großen Instituten immer mehr in kaum überwachte Schattenbanken verschoben haben. Wer weiß schon, was in der Welt der Kryptowährungen gerade geschieht? Und wie verwundbar hoch verschuldete Volkswirtschaften sind, zeigen gerade die Krisen in der Türkei und Argentinien.

Ich weiß nicht, wer recht hat. Weder wiederholen sich Krisen automatisch noch lassen sich große Unfälle in Finanzmärkten je völlig vermeiden. In einem Punkt bleiben die Ereignisse vom Wochenende des 13. bis 15. September 2008 jedenfalls aktuell und relevant: Die große Frage von damals – soll die Regierung eine Bank retten, die selbst verschuldet zusammenbricht – ist auch heute nicht beantwortet.

Warum wurde Lehman nicht gerettet?

Im Nachhinein wirkt die Entscheidung der damals Verantwortlichen, allen voran US-Finanzminister Henry Paulson und der New Yorker Fedchef Timothy Geithner, Lehman nicht aufzufangen, wie eine der großen Torheiten der Geschichte. Die Finanzkrise war bereits in vollem Gange, aber erst die Lehman-Pleite machte aus ihr eine echte Wirtschaftskrise. Das war damals vorauszusehen. Oder ließ Paulson Lehman eingehen, weil er als ehemaliger Goldman-Sachs-Chef einen verhassten Konkurrenten nicht helfen wollte? Diese Verschwörungstheorie wird auch heute noch gerne vorgebracht.

Aber es gab gute Gründe, warum Lehman an diesem Wochenende nicht gerettet wurde. Die Regierung von US-Präsident George W. Bush hatte 2008 bereits die Investmentbank Bear Stearns mithilfe von Garantien der Notenbank vor dem Kollaps bewahrt und die beiden halbstaatlichen Hypothekenbanken Fannie Mae and Freddy Mac mit Steuergeldern aufgefangen. Im US-Kongress waren die Republikaner entrüstet und hatten die öffentliche Meinung hinter sich. Lehman war noch einmal größer galt als besonders krasses Beispiel von Inkompetenz und Gier. Auch hier rettend einzugreifen würde Banken nur dazu verleiten, noch mehr Risiko einzugehen und das Finanzsystem weiter zu destabilisieren. "Moral harzard" war damals ein viel verwendeter Begriff.

Der Kollaps geschah in Europa

Dazu kam, dass sich keine andere Bank bereit erklärte, Lehman zu kaufen. Die britische Barclays war interessiert, erhielt aber kein grünes Licht von der britischen Regierung. Eine reine Verstaatlichung wäre noch unpopulärer gewesen.

Und das Ausmaß des Chaos, das die Lehman-Pleite hervorrief, war nicht unbedingt vorauszusehen. In den USA hätte die Insolvenz wahrscheinlich halbwegs ordentlich abgewickelt werden können. Es war in Europa, wo es keine vertragliche Bestimmungen für Lehmanpapiere im Insolvenzfall gab und als Folge daher kein Institut dem anderen mehr traute. Der Kollaps der Finanzmärkte ging von Europa aus. Auch wenn Österreicher und andere Europäer dies nicht sehen wollten: Die Lehman-Krise war von Anfang an auch eine europäische Krise.

Bankenrettungen beenden

Was Paulson und Co damals bewegte, ist auch heute noch ein zentrales Ziel der Politik: die Rettung von Banken durch Steuergeld ein für alle Mal zu beenden. Denn das erhöht das Risiko im Finanzsystem weiter und sorgt für Empörung und Zorn in der Bevölkerung. All die Abwicklungsmechanismen, die in den vergangenen Jahren in den USA und Europa entwickelt wurden – Bail-in und Living Will –, dienen allein diesem Zweck.

Aber das ist leichter gesagt als getan. Nach Lehman kamen die Bankenrettungen erst richtig in Gang. Gerät ein größeres Institut wirklich in eine Schieflage, dann fällt es der Politik schwer, nicht einzugreifen – wie etwa zuletzt bei den beiden norditalienischen Banken, die entgegen der neuen EU-Regeln aufgefangen wurden.

Hier diente Lehman als abschreckendes Beispiel für Nichtstun. Und solche Situationen werden sich sicher in den kommenden Jahren wiederholen, im Kleinen oder im Großen: Sie bringen die Politik jedes Mal in ein Dilemma, für das es keine gute Antwort gibt.

P.S. Mein eigener Kommentar am 15. September 2008 war von dieser Ambivalenz geprägt. Wenn ich ihn heute wieder lese, weiß ich, dass ich Unrecht hatte. Dennoch würde ich in der gleichen Situation ähnlich wieder schreiben. Denn es hätte auch anders ausgehen können.