Wer auf dem Filmfestival von Toronto richtig Wind in die Segel bekommt, gelangt damit ein gutes Stück voran. Auf der Großveranstaltung, die alle kurz und bündig TIFF nennen, werden die Weichen für die "award season" gestellt, die im Februar in der Oscarnacht gipfelt. Die Höhepunkte des nächsten Halbjahres werden allerdings mit keinem Wettbewerb bestimmt, sondern mit einer eher informellen Mischung aus Filmkritik und Marktgeschrei. Ein Spiel aus Angebot und Nachfrage, das in seinem Nachdruck auf den nächsten Hit auch etwas zwanghaft wirkt.

Alfonso Cuaróns Familiendrama "Roma", bereits in Venedig hochdekoriert, hat in Toronto jedenfalls seine Führungsrolle bestätigen können. Eine der mit Spannung erwarteten Weltpremieren war dagegen "If Beale Street Could Talk" von Barry Jenkins. Der schwarze US-Filmemacher hatte hier vor zwei Jahren den Grundstein für seinen Erfolg mit "Moonlight" gelegt. Dass Jenkins nun James Baldwin verfilmt, den US-Autor, dessen so wichtige Stimme gerade wieder mehr Gehör findet, passt ins Bild. Und tatsächlich, es wurde der feinnervige Film, den man sich erhofft hat.

Rassistisches Justizsystem

"If Beale Street Could Talk" will dem Roman gerecht werden, Jenkins folgt ihm bis in einzelne Szenen und Dialogzeilen hinein. Zugleich setzt er mit der Geschichte um die rehäugige Tish (KiKi Layne) und ihren Geliebten Fonny (Stephan James), die im New York der 70er-Jahre durch ein rassistisches Justizsystem hart geprüft werden, aber auch seine Erkundung afroamerikanischer Lebenswirklichkeiten stimmig fort. Gefühliger, auch gedämpft optimistischer als im schwermütig gebrochenen "Moonlight".

Erkundung afroamerikanischer Lebenswirklichkeiten: Die James Baldwin-Verfilmung "If Beale Street Could Talk".
Foto: If beale street could talk

Jenkins feiert die Schönheit seiner jungen, strahlenden Darsteller, jeder Augenaufschlag hat Bedeutung. Darf man Harlem so zeigen? Nicht wenn man dem Branchenblatt "Variety" glaubt. Dabei sind gerade der romantische Nachdruck, das In-den-Farben-Schwelgen so betörend. Die Wunden, das Leid und die Demütigungen, die Schwarze im Alltag erfahren müssen, bleiben ja trotzdem präsent. Aber einmal scheint es so, als ob die Liebe die größere Macht innehat. Immer wieder hebt Jenkins Szenen hervor, in denen Menschen einander vertrauen, Hindernisse gemeinsam überbrückt werden.

Man wird sehen, ob der ein wenig aus der Zeit gefallene Film noch sein Momentum findet. Neben Jenkins waren es vor allem die Premieren von Steve McQueen und Claire Denis, mit denen das Festival seine Bedeutung unterstrichen hat. Beide Filmschaffende bewegen sich auf ungewohntem Terrain, zumindest auf den ersten Blick.

Erstmals Genrefilm für Steve McQueen

McQueen hat mit "Widows" erstmals einen Genrefilm realisiert, basierend auf einer britischen TV-Serie aus den frühen 1980er-Jahren. Er interessiert sich nicht nur für das Schaustück des Heist-Movie, den Coup, sondern vor allem für die Figuren, die vier Witwen einer Gangster-Crew, die nun selbst aktiv werden. Ähnlich wie "The Departed" durchleuchtet der Film auch kulturellen Milieus und politische Kräfteverhältnisse, in diesem Fall jene Chicagos. McQueens pointiert-kraftvolle Inszenierung und die famose Besetzung bereiten Vergnügen. Viola Davis gibt die resolute Anführerin der Frauenpartie, die Australierin Elizabeth Debicki trickst betörend an ihrer Seite. Robert Duvall und Colin Farrell sind als korruptes Vater-Sohn-Gespann zu erleben.

Radikaler als McQueen verleibt sich die Französin Claire Denis in "High Life" ein neues Genre ein. Mit Robert Pattinson in der Hauptrolle prominent besetzt, entwirft der Film eine hypnotische Fabel um eine Raumschiffcrew, die aus lauter verurteilten Verbrechern besteht. Dass diese Gruppe nicht gut miteinander kann, ist von Anfang an klar.

Claire Denis' Weltraumfilm "High Life" erinnert an Tarkowskis legendärem "Solaris".
Foto: High Life

Denis geht es vor allem darum zu zeigen, wie diese Menschen fernab der Erde auf ihre existenziellen Grenzen stoßen. Die stille Nachdenklichkeit des Films, der nur momentan durch Gewalt (oder Sex) unterbrochen wird, erinnert mehr an Andrei Tarkowskis legendäre Stanislaw-Lem-Verfilmung "Solaris" oder Douglas Trumbulls Space-Oper "Silent Running".

Faszinierend physisches Kino bot auch der New Yorker Filmemacher Alex Ross Perry ("Golden Exits"). Nach Natalie Portman in Brady Corbets Popstar-Allegorie "Vox Lux" verkörpert nun auch Elizabeth Moss eine Musikerin – mehr im Stile eines Riot Grrrl der 90er-Jahre.

Elisabeth Moss in "Her Smell" als Riot Grrrl der 1990er-Jahre.
Foto: Her Smell

Moss erzählte in Toronto, dass sie sich an Courtney Love, aber auch an Marilyn Monroe orientiert habe. In drei Kapiteln führt "Her Smell" quasi in Echtzeit den drogenbedingten Verfall seine Hauptfigur vor – ein Trip, der durch die angstlose Darstellerin intensiv nachwirkt. Perry bewahrt dennoch seinen Sinn für Ambiguität, indem er die Heldin auch die Möglichkeit einer sanften Landung lässt.

Markus Schleinzers kluger "Angelo"

Ein historische Variante von Starruhm hat der Österreicher Markus Schleinzers in seinem Film "Angelo" im Visier. Ausgehend vom Fall Angelo Soliman, einem Afrikaner, der es im Wien des 18. Jahrhunderts zum Kammerdiener und Gesellschafter des Kaisers brachte, hat er einen klugen und äußerst rigide inszenierten Film über die Lust an der Exotik, koloniales Denken und Projektionsflächen gedreht.

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Markus Schleinzer bei der Vorstellung seines Films in Toronto.
Foto: AP

Angelo, der schon als Knabe nach Europa "eingekauft" wird, ist "der Andere", zugleich einer von vielen: ein Mensch als dressiertes Tier, an dessen Fähigkeiten man sich erfreut, der aber ja keine Bedürfnisse entwickeln soll. Schleinzers Film erzählt von falscher Toleranz, von einem Rassismus, der in der kulturellen Kolonisierung besteht. In einer der besten Szenen setzt man Angelo einen anderen Schwarzen gegenüber, damit er jemanden zum Reden hat. Was darauf folgt, ist langes Schweigen. (Dominik Kamalzadeh, 16.9.2018)