Ungarns Premier Viktor Orbán vergangene Woche im Europäischen Parlament.

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Im Streit um die Einleitung eines Rechtsstaatsverfahrens gegen Ungarn sprechen zentrale juristische Leitlinien der EU für die Rechtmäßigkeit des entsprechenden Abstimmungsergebnisses im Europäischen Parlament. Ungarn hatte nach dem Votum vergangene Woche erklärt, dass auch die 48 Enthaltungen als abgegebene Stimmen hätten berücksichtigt werden müssen. Dies würde bedeuten, dass die erforderliche Zweidrittelmehrheit nicht erreicht worden wäre, Ungarn kündigte deshalb die juristische Anfechtung des Beschlusses an.

Sowohl im Vertrag von Lissabon als auch in der Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments ist jedoch im Bezug auf das Verfahren nach Artikel 7, bei dem es um die "Verletzung von wesentlichen Grundsätzen und Werten durch einen Mitgliedsstaat" geht, von der Zweidrittelmehrheit "der abgegebenen Stimmen" und von der "Mehrheit der Mitglieder" des Europäischen Parlaments die Rede.

"Nur Ja- und Nein-Stimmen"

Konkret bedeutet das: Die 448 abgegebenen Ja-Stimmen gegenüber 197 Nein-Stimmen würden für eine Zweidrittelmehrheit zur Einleitung eines Rechtsstaatsverfahrens gegen Ungarn reichen. Selbst zur Frage, ob nicht doch auch eine Stimmenthaltung als "abgegebene Stimme" angerechnet werden kann, gibt die parlamentarische Geschäftsordnung Auskunft: Für die Annahme oder Ablehnung eines Textes werden laut Artikel 178 "nur die abgegebenen Ja- und Nein-Stimmen" berücksichtigt.

Strittig könnte hier allenfalls jene Passage bleiben, der zufolge Letzteres nicht in Fällen gilt, für die eine "spezifische Mehrheit" vorgesehen ist. Die genannte "Mehrheit der Mitglieder" des Europäischen Parlaments ist jedoch ebenfalls erzielt worden: Insgesamt, selbst unter Einrechnung der nicht anwesenden Mandatare, hat dieses nämlich 751 Abgeordnete – 448 Stimmen sind eindeutig über der 50-Prozent-Marke. Heinz-Rudolf Miko, Pressesprecher der Vertretung der Europäischen Kommission in Wien, sprach im Gespräch mit dem STANDARD von einer insgesamt "sonnenklaren Sache".

Vertrauensverhältnis zwischen Rat und Parlament

Die FPÖ stärkt der nationalkonservativen Regierung in Budapest indes den Rücken. Vizekanzler Heinz-Christian Strache hatte "großes Verständnis für die ungarische Argumentation" geäußert und die von seiner Partei nominierte Außenministerin Karin Kneissl ersucht, den juristischen Dienst des Europäischen Rates mit der Angelegenheit zu befassen. Dass damit eine EU-Einrichtung die Entscheidungsfindung einer anderen juristisch kommentieren soll, gilt unter Fachleuten als Infragestellung des prinzipiellen Vertrauensverhältnisses zwischen den Institutionen. (Gerald Schubert, 17.9.2018)