Männer, richtige Männer, tragen Bärte! Jedenfalls in der zweiten Hälfte des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. In den meisten Fotografien aus jener Zeit trägt der Mann von Welt eine gar wunderbare, oft ausufernde Barttracht. Meist wurden die Bärte mit Wachs aufwändig modelliert und gestärkt um jedem Wetter zu trotzen:
London, 9 Uhr, Nebel – der Bart hält.
Brentford, 13 Uhr, Regen – der Bart hält.
Twickenham, 19 Uhr, stürmisch – der Bart hält.
Den Bart korrekt gestärkt und in gefälliger Form zu halten war für den viktorianischen Gentleman von herausragender Bedeutung.

Barttasse von Captain John Leander Steele aus dem amerikanischen Bürgerkrieg.
Foto: Lani Hudelson [CC BY-ND 2.0]

Was zweifellos ein durchaus drängendes Problem in den Vordergrund gerückt haben dürfte: Wie trinke ich heiße Getränke richtig?
Der Dampf, der aus der Tasse aufsteigt, bringt unweigerlich das Wachs im Bart zum Schmelzen, ein Ende der mühevoll geformten Gesichtsbehaarung als traurige Folge. Außerdem können Heißgetränke aller Art unhübsche Flecken im Schnauzer hinterlassen.

Da bleiben letztlich nur zwei Möglichkeiten

Der Mann, der etwas auf sich und sein Statussymbol hält, verzichtet gänzlich auf Tee oder Kaffee. Nachgerade unmöglich – man denke nur an all die englischen Gentlemen, die ihrem nachmittäglichen Tässchen Tee entsagen müssten. Somit kommt allein Möglichkeit B infrage: die Verwendung einer formschönen Barttasse!

Barttasse mit Blümchen
Foto: teofilo/flickr [CC BY-ND 2.0]

Harvey Adams, ein Keramik-Fachmann, Töpfer und erfindungsreicher Engländer des 19. Jahrhunderts, erkannte das drängende Problem und fand schließlich die Lösung in der Adaptierung herkömmlicher Tassen. In den 1870ern brachte er seine Erfindung auf den Markt: Eine horizontale Querverbindung unterhalb der Stelle, an der beim Trinken der Mund angesetzt wird, hielt heißen Dampf von nun an fern und schützte somit Bart und Wachs vor dem Aufweichen.

Während des Trinkvorgangs wurde der Oberlippenbart sozusagen auf dem Quersteg abgelegt – gut geschützt vor jeglicher Benässung und Bedampfung. Problem auf einfache, jedoch wirkungsvolle Weise gelöst.
Und die Erfindung fand auch Erwähnung in einem der gewaltigsten Werke der Weltliteratur: In James Joyce's "Ulysses" trinkt Leopold Bloom seinen Tee stilecht aus einer Barttasse.

Barttasse mit Kleeblatt
Foto: Norsk Folkemuseum [CC BY-SA 4.0]
Barttasse mit Goldrand
Foto: Christensens Hvalfangstmuseum [CC BY-SA 4.0]

Aus der Notwendigkeit zum Sammlerstück

Barttassen erfreuten sich zwischen 1860 und 1920 im englischen, französischen, deutschen und nordamerikanischen Kulturraum sehr großer Beliebtheit. Hergestellt wurden sie aus Porzellan, Steingut oder auch Silber. Verkauft wurden sie meist in Kombination mit einer passenden Untertasse. Porzellanmanufakturen wie Meißen in Deutschland oder Limoges in Frankreich fertigten besonders exquisite Tassen an.
Heute noch erhaltene Exemplare dieser Barttassen zählen zu weltweit geschätzten Sammlerstücken.

Barttasse mit Ranken
Foto: Norsk Folkemuseum [CC BY-SA 4.0]
Hoch die Tassen!
Foto: David Loong [CC BY-ND 2.0]

Eine wohl durchdachte Erfindung, die mit dem desaströsen Niedergang der westlichen Bartkultur leider ein jähes Ende fand. Da nützt auch nicht der Hinweis des französischen Schriftstellers Guy de Maupassant, der in der Novelle "Schnaps-Anton" anmerkte: "... eine Lippe ohne Schnurrbart ist nackt wie ein Körper ohne Kleider." (Kurt Tutschek, 28.9.2018)

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