Wien – Es gibt zwei Möglichkeiten, was sich in der Nacht des 17. August 2017 im Innenhof eines Gemeindebaus in Wien-Liesing abgespielt hat. Entweder haben drei betrunkene Brüder, einer von ihnen bewaffnet, ein anderer 23-fach vorbestraft, Hüseyin D. zunächst ausländerfeindlich beschimpft und sind, als er sie zur Rede stellte, auf ihn losgegangen und haben ihn verletzt. Oder der unbescholtene 31-jährige D. hat sich zehn Meter, bevor er seine Wohnungstür erreichte, grundlos zu den Brüdern umgedreht, hat: "Es Hurenkinder, ich bin Kampfsportler, i bring eich olle um!" gebrüllt und dann zwei der Gegner verletzt.

Für die Staatsanwaltschaft Wien schien die zweitere Version plausibler zu sein. Das Verfahren wegen Körperverletzung gegen die Gebrüder K. wurde eingestellt, vor Richter Christian Noe muss sich D. wegen schwerer Körperverletzung verantworten. Der von Wolfgang Bernt verteidigte, in Istanbul geborene, Österreicher bekennt sich nicht schuldig und plädiert auf Notwehr.

Auf dem Heimweg beschimpft

Er erzählt dem Richter die selbe Geschichte, die er dem damals einschreitenden Polizeibeamten erzählt hat. "Ich habe mich mit einem Freund getroffen und zwei Bier getrunken. Danach habe ich noch Essen für mich und meine Frau besorgt und war auf dem Heimweg." Hinter ihm im Hof sei eine Gruppe mit drei Männern, zwei Frauen und mehreren Kindern gewesen. "Die Männer haben dann 'Drecksausländer' gesagt und 'Der Hurntschusch soll froh sein, dass er noch in Österreich sein darf'", erinnert sich der 1992 eingewanderte Angeklagte.

"Ich habe mich dann umgedreht und gefragt, ob sie was von mir wollen. Darauf sind die drei Männer hergekommen und haben mich eingekreist. Ich stand mit dem Rücken zu einem Gebüsch. C. K. hat dann begonnen, mich mit der Faust zu schlagen, A. K. hat aus seiner Tasche eine Monkey Fist genommen und mir auf den Kopf geschlagen."

Für Seefahrtsunkundige und Nicht-Straßenkämpfer ist hier eine kurze Erklärung nötig: Monkey Fist, auch Affenfaust genannt, ist eigentlich ein spezieller Knoten am Ende einer Schnur. Ist in diesem Knoten eine mehrere Zentimeter große Stahlkugel verborgen, wird er zur gefährlichen Hiebwaffe, die vom deutschen Bundeskriminalamt als verbotener Totschläger eingestuft wird, in Österreich aber legal ist.

"Ich habe um mein Leben gefürchtet"

D. erlitt durch die Schläge eine blutende Kopfwunde und fiel in die Büsche, wodurch er sich Kratzspuren am Rücken zuzog. "Ich habe um mein Leben gefürchtet"; beteuert er. "Ich habe geschlagen und getreten, es kann schon sein, dass ich die beiden getroffen habe und C. K. gestürzt ist", sagt der Angeklagte. Als seine Frau aus dem Schlafzimmerfenster geschaut habe, bat er sie, die Polizei zu verständigen.

Bezirksinspektor L., der mit einer unerfahrenen Kollegin eintraf, notierte gleich anschließend in einem Aktenvermerk, dass alle drei Brüder "stark alkoholisiert" gewesen seien, und A. K. derart aggressiv, dass er eine Anzeige bekam. "Eigentlich wäre das Verhalten Grund für eine Festnahme gewesen", sagt der Beamte als Zeuge nun aus, man habe aber die Situation nicht weiter eskalieren lassen wollen. D. sei dagegen ruhig und kooperativ gewesen.

Dieser polizeiliche Aktenvermerk spielt bei der Einvernahme der drei Brüder sowie der Lebensgefährtinnen von zwei von ihnen eine wichtige Rolle. Die Befragung beginnt mit Jacqueline J., Partnerin von A. K. – sie sagt aus, man sei maximal leicht angetrunken gewesen. D. habe unprovoziert gedroht und A. K. einen Faustschlag ins Gesicht versetzt, während der noch die vierjährige Tochter im Arm hatte.

Trotz Angriffs auf Partner keine Polizei gerufen

Sie sei mit den Kindern dann in die Wohnung ihrer Schwägerin geflüchtet, sagt die Zeugin – und will 15 Minuten nichts gemacht haben. "Warum haben Sie nicht die Polizei gerufen, wenn Ihr Lebensgefährte geschlagen wird?", wundert sich Noe. "Ich war überfordert. Ich habe mich um die Kinder kümmern müssen und sie beruhigen." Seltsamerweise sagt A. K. später bei seiner Aussage, seine Kinder seien traumatisiert, da sie die Schlägerei vom Fenster aus beobachtet hätten.

"Und war jemand aggressiv, als die Polizei gekommen ist?", will Noe von der 30-Jährigen wissen. "Nein, niemand." – "Sie stehen unter Wahrheitspflicht!", ermahnt sie der Richter und verliest den Polizeivermerk. "Vielleicht war das, bevor ich heruntergekommen bin"; versucht die Zeugin auszuweichen. "Ein letztes Mal: Haben Sie es mitbekommen?" – "Ja." – "Was?" – "Er hat sich missverstanden gefühlt und aufgeregt." – "Warum haben Sie mich angelogen?" – "Ich muss ja meinen Lebensgefährten nicht belasten!" – "Sie können die Aussage dann verweigern", stellt Noe klar.

In dieser Richtung gehen die Zeugenaussagen weiter. E. K., der an der Schlägerei nicht beteiligte Bruder, schwört Stein und Bein, dass keiner betrunken gewesen ist. Selbst der Staatsanwalt erinnert ihn an die Wahrheitspflicht, E. K. bleibt bei seiner Darstellung. "Sie haben 23 Vorstrafen", ruft der Richter dem aufgebrachten Zeugen ins Gedächtnis.

Aggressiv starrender Zeuge

"Des hod mit dem nix ztuan", entgegnet der. "Wenn Sie falsch aussagen muss man sich bei dieser Vorstrafenbelastung darauf einstellen, dass Sie länger ein Budgetposten im österreichischen Strafvollzug werden", sieht Noe durchaus einen Konnex. Im Protokoll lässt der Richter auch noch extra festhalten, dass "der Zeuge den Angeklagten in aggressiver Weise anstarrt".

Monkey Fist-Besitzer A. K. sagt, das Ding sei kein Totschläger, sondern seit Jahren sein Schlüsselanhänger. Eingesetzt habe er ihn nur, um sich gegen den Angeklagten zu wehren. Beim Einsatz sei ihm der Anhänger dann aus der Hand geflogen – die Schlüssel habe er eine halbe Stunde später im Gebüsch gefunden. Die Monkey Fist fand die Polizei, die Schlüssel wurden damals nicht als vermisst gemeldet.

Am Ende stehen fünf Aussagen gegen die Version von D., Noe spricht ihn dennoch nicht rechtskräftig frei. "Sie haben einen sehr ruhigen und positiven Eindruck auf das Gericht gemacht und haben von Anfang an eine schlüssige Erklärung der Abläufe geliefert. Die Zeugen hätten sich dagegen offensichtlich abgesprochen. Dass sich der betrunkene C. K. seinen Beinbruch durch einen Sturz zugezogen habe, schließe auch das medizinische Gutachten nicht aus, insgesamt sieht der Richter also gerechtfertigte Notwehr und verweist die Brüder, die 3500 Euro Schmerzensgeld wollen, auf den Zivilrechtsweg. Ob es Anzeigen wegen falscher Zeugenaussage gibt, bleibt offen. (Michael Möseneder, 21.9.2018)