Im Frühjahr 2002 war ich für das ZDF in Boston, um über den eben publik gewordenen Missbrauchsskandal in der dortigen Erzdiözese zu berichten. Ich sprach mit Opfern und Vertretern der Kirche. In diesen Tagen sah es so aus, als handle es sich um ein lokales Problem. Heute, 16 Jahre später, findet sich nahezu kein Land in der christlichen Welt, in dem nicht Missbrauch an Schutzbefohlenen durch katholische Priester öffentlich geworden wäre. Nach dem schockierenden Bericht vor wenigen Wochen aus Pennsylvania haben es nun auch deutsche Katholiken schwarz auf weiß: In den Jahren 1946 bis 2014 wurden 3677 Personen, die Hälfte von ihnen Buben unter 13 Jahren, von 1670 katholischen Geistlichen missbraucht. Der Bericht sollte ursprünglich Ende September von den deutschen Bischöfen vorgestellt werden. Das Nachrichtenmagazin "Spiegel" hat die Zusammenfassung des Reports vorab veröffentlicht.

Ein umfassendes Urteil wird erst möglich sein, wenn der gesamte Bericht vorliegt. Jedoch zeichnet sich ab, dass in Deutschland dieselben Zustände herrschten und herrschen wie überall in der Weltkirche: Geistliche, die sich eines Missbrauchs schuldig gemacht hatten, wurden versetzt, ohne die neuen Gemeinden zu informieren. In den wenigen Fällen, in denen ein kirchenrechtliches Verfahren gegen Priester angestrengt wurde, waren die Konsequenzen für die Geistlichen überschaubar. Der Ruf der Kirche war den Hirten wichtiger als das Schicksal der Opfer.

Vier Prozent Täter

Die Autoren des Konsortiums, das die Studie im Auftrag der Kirche erstellt hat, sind Wissenschafter der Universitäten Heidelberg, Mannheim und Gießen. Sie betonen, dass sie keinen umfassenden Zugang zu den Akten hatten und dass es eine entsprechend hohe Dunkelziffer geben könnte. Aufgrund des vorliegenden Datenmaterials ergibt sich für sie ein Anteil von vier Prozent der aktiven Geistlichen, die sich an Schutzbefohlenen vergangen haben. Wie in anderen Ländern auch hinterlassen die Enthüllungen verstörte, traurige und zornige Kirchen- und aktive Gemeindemitglieder. Für sie ist unvorstellbar, was sich in ihrer unmittelbaren Nähe abgespielt hat beziehungsweise wie dieses kriminelle Verhalten vom Episkopat verschleiert wurde. Hinzu kommt ein Generalverdacht gegenüber den anderen 96 Prozent der Priester, die unbescholten ihren wertvollen Dienst in den Gemeinden vollziehen.

Die Empfehlungen, die die Wissenschafter abgeben, haben es in sich: Da bei den Diakonen, die verheiratet sein dürfen, die Anzahl derer, die Minderjährige missbraucht haben, deutlich geringer ist als bei den ehelosen Priestern, regen sie an, den Pflichtzölibat zu überdenken. Zudem empfehlen sie, die Ablehnung homosexueller Priester zu überdenken. Durch die Tabuisierung von Homosexualität im Speziellen und Sexualität im Allgemeinen schafft die Kirche das Umfeld, in dem Missbrauch vorkommen und gedeihen kann.

Moralischer Kompass

Deutschland, Irland, die USA, Mexiko, die Philippinen, Australien – überall ist das Verbrechen auf die gleiche Weise zustande gekommen und gedeckt worden. Die Papstkirche ist aufgrund dieses weltweiten Skandals, der die desaströsen Machtstrukturen im Inneren der Institution offenlegt, moralisch diskreditiert, um nicht zu sagen bankrott. Der Skandal wiegt so schwer wie die Missstände in der römischen Kirche am Vorabend der Reformation. Sie hat es verwirkt, ihren Gläubigen in irgendeiner Weise moralische Vorschriften zu machen. Wenn dieselben Bischöfe, die wiederverheirateten Geschiedenen den Zugang zur Kommunion verbieten, Verbrecher in den Reihen des Klerus decken, die täglich die Heilige Messe feiern, dann zeigt dies, dass hier jeglicher moralische Kompass verlorengegangen ist. So sind denn auch vormals katholische Bastionen wie Irland radikal auf Distanz zum Papsttum gegangen. In Brasilien ist ein satter Prozentsatz der Bevölkerung mittlerweile nicht mehr katholisch, sondern in eine evangelikale Gemeinschaft konvertiert.

Was kann es da helfen, dass Papst Franziskus nun die Vorsitzenden der Bischofskonferenzen nach Rom beordert? Papst Benedikt hatte bereits als Präfekt der Glaubenskongregation und später in seinem Pontifikat versucht, Missbrauch streng zu ahnden und die Strukturen zu zerstören, die ihn ermöglichten. So war Joseph Ratzinger nie ein Freund von Marcial Maciel, dem Gründer des mexikanischen Ordens Legionäre Christi. Gerüchte über dessen Sexleben, zu dem der Missbrauch von Buben und jungen Männern gehört haben, waren im Vatikan nicht unbekannt. Der mittlerweile heiliggesprochene Johannes Paul II. aber verehrte den charismatischen Gründer des Ordens. Bislang hatten die Strukturen, die Übeltäter wie Maciel schützen, größere Macht als der Stellvertreter Jesu Christi auf Erden.

Der Papst muss handeln

Für das Leid, das Geistliche überall auf der Welt ihnen anvertrauten Kindern und Jugendlichen zugefügt haben, gibt es keine Worte. Ob die Kirche untergehen wird oder sich reformieren kann, wird von den Konsequenzen abhängen, die der Papst nun zieht: Die Abschaffung des Zölibats und die Dekriminalisierung der Homosexualität sind auf diesem Weg unvermeidbare Schritte. (Alexander Görlach, 20.9.2018)