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Dass die Verhandlungen zwischen der EU und London nicht mit voller Geschwindigkeit vorankommen, bereitet vielen Iren Sorge.

Foto: Reuters / Clodagh Kilcoyne

Seit Boris Johnson im Juli das britische Kabinett verließ, sind seine Verfluchungen immer radikaler geworden. Jüngst ging er mit den Brexit-Plänen von Premierministerin Theresa May ins Gericht. Deren sogenanntes Chequers-Papier stelle "eine Selbstmörderweste für den britischen Staat" dar; auch von "wirtschaftlichem Vasallentum" durch die EU schreibt Johnson.

Kaum etwas erregt den EU-Feind mehr als die bereits vergangenen Dezember festgeschriebene Auffanglösung (Backstop) für Nordirland: Sollte keine andere Einigung zustande kommen, verbleibt der britische Teil der Grünen Insel in der Zollunion und in weiten Teilen des Binnenmarkts der EU. Damit trugen London, Dublin und Brüssel dem ausgeklügelten Karfreitagsabkommen von 1998 Rechnung, das dem langen Bürgerkrieg ein Ende gemacht hatte.

Dazu gehört auch die Öffnung der 300 Kilometer langen Grenze, die heute vielerorts kaum noch zu erkennen ist. Sie unter allen Umständen offen zu halten entspricht dem Willen der Wählerinnen und Wähler: Die Nordiren entschieden sich vor zwei Jahren mit 56 zu 44 Prozent für den EU-Verbleib, jüngste Umfragen ermittelten gar ein Verhältnis von 65 zu 35 Prozent.

Von der "Vorhölle" ...

Ganz egal – Johnson zufolge stellt der Backstop "eine Monstrosität" dar, dem ganzen Land drohe "trauriger, permanenter Limbo". Gemeint ist der Limbus, jene Vorhölle, in der mittelalterlichen Philosophen wie Thomas von Aquin zufolge ungetaufte Kinder verharren. Dem Fegefeuer entgehen sie durch ihre Sündenlosigkeit; der Zugang zum Paradies aber steht nur Getauften offen, so die heutzutage unter Theologen kaum noch vertretene mittelalterliche Überzeugung.

"Im Limbo", wie der Engländer sagt, könnten dem Altphilologen Johnson zufolge also demnächst rund 65 Millionen Briten Platz nehmen – gebunden an die Vorschriften der EU, aber ohne Einfluss auf ihr Zustandekommen. Und das alles nur wegen der irischen Nachbarinsel.

Vielleicht hätte Theresa May im Sommer 2016 den Brexit-Vormann lieber zum Nordirland-Minister statt zum Chef des Außenressorts machen sollen. Dann hätte sich Johnson entlang der Grenze einen Eindruck von den Schwierigkeiten verschaffen können, die seine Politik den Iren eingebrockt hat. Begegnet wäre ihm eine schöne Möglichkeit zu innerer Einkehr.

... zu Patricks Fegefeuer:

Nahe beim Grenzort Pettigo, gerade noch innerhalb der Republik, liegt nämlich, mitten im Lough Derg, die berühmte Wallfahrtsstätte St Patrick's Purgatory. Am Ufer des Sees wacht eine überlebensgroße Pilgerstatue über den Bootssteg, die Überfahrt dauert drei Minuten. Hinter den Wallfahrerherbergen und der grauen St-Patrick's-Basilika befindet sich ein kleiner, wenig mehr als überlebenshoher Hügel.

An dieser Stelle verschwand im fünften Jahrhundert Irlands Nationalheiliger Patrick in einer Höhle und erhielt einen Einblick ins Jenseits, Himmel, Hölle und Fegefeuer. Genauer gesagt: Hier "soll" der Ort sein für die "Geschichte" von Patricks Besuch im Jahre 445, wie es auf der Schautafel verschämt heißt. Selbst Irlands Katholiken haben im 21. Jahrhundert ihre Glaubensgewissheit eingebüßt.

Nicht so freilich ihre Vorfahren im Mittelalter. Nachdem im 12. Jahrhundert ein englischer Mönch ausführlich die Geschichte vom Wallfahrer Owein geschildert hatte, machten sich alsbald reumütige Schlawiner aus ganz Europa auf den Weg in den wildromantischen Nordwesten Irlands. Wie der wilde Ritter Owein mussten sie dort jedoch zunächst vielfältige bürokratische Hürden überwinden, schließlich lag die Personenfreizügigkeit der EU noch in weiter Ferne.

Den Bußort verlasse niemand, predigte im Jahr 1200 Peter von Cornwall, ohne einen Teil seines Verstandes verloren zu haben. Ob die Halluzinationen auf den Rauch verbrannter Heilpflanzen zurückgingen? Oder waren die vielfach gemeldeten frommen Albträume durch die knappen Abmessungen bedingt? Einer alten Beschreibung zufolge war die Höhle drei Meter lang, knapp einen Meter breit und für einen Erwachsenen höchstens zum Knien geeignet, hatte also unerfreuliche Ähnlichkeit mit einem Sarg. Da kann schon einmal Schreckensvorstellungen bekommen, wer nach 15 Tagen Wasser und Brot für 24 Stunden zum Wachgebet ohne jede Nahrung weggesperrt wird.

Orte für Boris Johnson

Immerhin winkte den Gläubigen im Blick auf ihr nahes Ende eine Art Lottogewinn: "Wer wirklich bußfertig, vom wahren Glauben beseelt ist und einen Tag und eine Nacht in der Höhle verbringt", versprach ein Patrick-Propagandist schon 1184, "der ist von allen Sünden seines Lebens gereinigt." Vielleicht sollte Boris Johnson seinen wahren Brexit-Glauben also nochmals überdenken – am besten auf einer Pilgerfahrt zu Patricks Fegefeuer.

Vorerst jedoch bleibt der Chequers-Plan von Theresa May wohl Gegenstand von Johnsons Kritik. In der Nordirland-Frage deutete May nach dem Salzburger Gipfel jedoch Bewegung an, bald will sie neue Vorschläge einbringen. Die hochsensible Frage, wie es an der Grenze rund um Patricks Fegefeuer weitergehen soll, harrt einstweilen einer Antwort. (Sebastian Borger, 21.9.2018)