Literatur, so wie sie Andrea Winkler schreibt, ist ein existenzieller Begleiter.

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Andrea Winkler, "Die Frau auf meiner Schulter". Roman, € 21,60 / 190 Seiten. Zsolnay-Verlag, Wien 2018

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Man kann etwas auf die leichte Schulter nehmen. Man kann jemandem die kalte Schulter zeigen. Man kann auch die eigenen oder jemandes anderen Probleme schultern. Aber was bedeutet der Buchtitel Die Frau auf meiner Schulter? In Andrea Winklers neuem Roman träumt ihre Heldin Martha des Öfteren. Einmal hat sie einen Traum, in dem ein melancholisch dreinschauender Mann einen Vortrag über das Sterben hält. Das nimmt eine anwesende Zuhörerin so mit, dass sie sich Martha nicht nur auf den Schoß setzt. – "Augenblicklich schrumpft die Frau und setzt sich auf meine Schulter." In der Tat ein "merkwürdiger Traum".

Träume, Traumerlebnisse sind oft Teil von Andrea Winklers Prosa. Sie sind aber weder die Nachtseite menschlichen Denkens und Tuns, das dann literarisch analysiert wird. Noch ist der Traumbereich die freie Welt der Gedankenassoziation wie bei den Surrealisten – dies obwohl die Autorin das Sprachspiel mit surrealen Bildern schätzt. Man könnte simpel sagen: Traum und Wachsein sind die zwei Schultern des Lebens.

Traumhafte Ausgangssituation

Traumhaft ist die Ausgangssituation des Romans: Friedrich, der Gemeindesekretär eines kleinen Dorfes, ist verstorben. In seinem Testament steht, dass er an all die sein Haus für eine geringe Summe vermiete, die "aus der Zeit gefallen sind und dennoch in ihr bleiben". Martha ist da ganz die Richtige: Sie kommt aus der Großstadt, Erfolge beruflicher oder privater Art hat sie nicht zu vermelden. Sie will aussteigen, besser gesagt, umsteigen aus der urbanen Hektik in die naturhafte Beschaulichkeit des Dorflebens: "Tagelang nicht viel mehr als das: Die Wolldecken schwangen auf der Wäscheleine im Garten vor meinem Fenster hin und her, ein Feldsperling setzte sich aufs Balkongeländer, das Gras rings um die Feuerschale verneigte sich vor dem Kater." Im Roman ist die Natur freundlich, aber auch ziemlich schläfrig. Aktivbolzen würden in solch einer Umgebung irrwitzig ausrasten.

Doch Martha und die Frauen, die sie im Laufe des Geschehens kennenlernt, sind Aussteiger auf Zeit. Olenka bezeichnet sich als "Sängerin ohne Engagement", dasselbe gilt für die Schauspielerin Katharina, die an der Schauspielerei erkrankt ist. Jetzt übt sie tagein, tagaus eine einfache Satzfolge: "Bananen! Schamanen! Hörst du mich! Hörst du mich!" Und Martha, die wohl auch im Kulturbereich gearbeitet hat, benennt ihre Situation so: "Seit geraumer Zeit außerhalb der Erwerbstätigkeit mäßig beschäftigt." Zu den Damen gesellen sich einige Herren, etwa Marthas Freund Benjamin – auch eine Art Aussteiger – und der Dorfwirt Sebastian, der beim Trocknen der Gläser Selbstgespräche führt. Man könnte meinen, das, was in Andrea Winklers Roman geschieht, ist banal landläufig und das, was gesagt wird, ist kindlich surreal.

In Wahrheit kommt es auf die Zwischentöne an. Martha zieht eine Art Resümee ihres Lebens: "Fast immer, wenn ich etwas dafür unternommen habe, mich zeitverzögert in besonderer Weise einer Sache zu vergewissern, ist sie mir abhandengekommen oder hat sich gegen mich gewendet, und am Ende wusste ich nichts, außer wie Kämpfen und Verlieren und Verlorenwerden vonstattengeht." Das sei zwar eine "wertvolle Erkenntnis" – nur wofür? Soll man weiterkämpfen, weiter verlieren – oder aussteigen?

Die Natur ist ein guter Ort

Alle Protagonisten in Winklers Roman zeigen der Ellbogengesellschaft die kalte Schulter. Sie wissen allerdings auch, dass ihre Auszeit im abgeschotteten Dorf begrenzt sein wird. Eines Tages werden sie in die urbane Arbeitswelt zurückkehren müssen – was aber dann? Werden sie dort durch einen geschulten Jiu-Jitsu-Schulterwurf eines ihrer Mitstreiter zu Boden gehen? Mag sein, aber vielleicht sollte man in der Auszeit, die man hat, über die wichtigen Dinge des Lebens nachdenken.

Andrea Winkler ist natürlich weder eine Ratgeberin für depressive Zeitgenossen noch Frustrationtherapeutin. Man sollte sich in ihrem Roman einige Gedankengänge bewusst machen. So gehen die Protagonisten miteinander respekt-, ja liebevoll um, Hackordnungen und verbale Egotrips kennen sie nicht. Die Natur ist ein guter Ort, um durchzuatmen und nachzudenken. Und der Tod? Er ist im Roman der stille Gast.

Martha erinnert sich an ihren sterbenden Vater, und Olenkas Mutter erkrankt im Laufe des Romans lebensbedrohlich. Der Tod ist da, aber er ist auch da, um über das Leben nachzudenken. Martha liest den philosophischen Dialog Phaidon. In diesem versucht der zum Tode verurteilte Sokrates seine Zuhörer zu überzeugen, dass man das Sterben nicht fürchten müsse – denn die Seele sei unsterblich. Das wird im Roman leicht und fast wie nebenher erzählt. Ein Bild mit dem Abendmahl taucht kurz auf. Martha liest mit einer Nonne einen Psalm. Und der örtliche Pfarrer entpuppt sich als Menschenfreund. Das war's dann auch schon – ein Wink der Autorin, mehr nicht.

So ist Winklers Roman ein luftig leichter, oft surreal-komischer Text, der die Höhen und Tiefen des Lebens auslotet – gehen muss jeder seinen eigenen Weg. Aber Literatur, so wie sie Winkler schreibt, ist ein existenzieller Begleiter, den man gern bei sich hat. Im Roman heißt es: "Auf das gute Ende haben wir kein angestammtes Recht, was nicht heißt, dass es sich nicht trotzdem zutragen kann: aber eben dann, wann es ihm gefällt." Genau! So spielt es, das Leben. (Andreas Puff-Trojan, 27.9.2018)