Der Modezirkus tourt! Nach New York und London macht er gerade in Mailand Halt, bevor in Paris die "Big Four" der Fashion Weeks komplettiert werden. Am Ende haben Fashion-Redakteure, Influencer und Mode-Interessierte unzählige Shows und noch mehr Looks gesehen. Im Gedächtnis bleibt nur, wer Aufsehen erregt. Als Patentrezept für Aufmerksamkeitserregung galt lange Zeit die bewusste Inszenierung von Skandalen. Doch womit verlängert man die Halbwertszeit eines Skandälchens, wenn nackte Haut zum Alltagsbild gehört

Sex sells?

Früher gelang dies leichter. Etwa 1946, als der Maschinenbauingenieur und späterer Modeschöpfer Louis Rénard die 19-jährige Stripteasetänzerin Micheline Bernardini engagiert, um seine neueste Kreation in Paris vozuführen. Die Legende besagt, alle Models hätten sich geweigert, diese für damalige Zeit skandalös knappe Badebekleidung öffentlich zu präsentieren. Schamlosigkeit und sexuelle Anspielungen – lange taugte die Modebranche hervorragend als Gradmesser für die aktuelle moralische Verfasstheit unserer Gesellschaft. Dennoch war das Erregungs-Level selten von nachhaltiger Wirkung. Wer etwa erinnert sich heute noch entsetzt an das Jahr 2009, als Gucci-Plakate die in G-Form rasierte Intimbehaarung eines Models zeigten?


Und wer kommt noch immer in Schnappatmung, wenn man die Rick Owens Show für die Sommersaison 2016 erwähnt, bei der an einer ganz bestimmten Stelle mit dem Stoff gespart wurde, sodass der Blick auf das beste Stück der männlichen Models freigegeben wurde?


Das Thema Sex vermag höchstens noch in nonkonsualem Kontext zu schockieren. Etwa geschehen 1995 bei Alexander McQueens "Highland Rape"-Show. Die Inspiration zur Kollektion war die von der britischen Armee durchgeführte "ethnische Reinigung" in den Schottischen Highlands des 18. und 19. Jahrhunderts. Dafür inszenierte der Modeschöpfer Frauen als Vergewaltigungsopfer – Risse in den Kleidern und entblößte Brüste inklusive. Das Publikum war schockiert, es kam sogar zu Demonstrationen. Ähnliche Reaktionen rief auch die Jänner-Ausgabe der Französische Vogue 2011 hervor, bei der Tom Ford die redaktionelle Verantwortung innehatte. Für eine Fotostrecke wurde das 10-jährige Model Thylane Loubry-Blondeau leicht bekleidet, dafür umso voller geschminkt, in lasziven Posen und mit verführerischem Blick abgelichtet.

Scroobily

Mode, ein Politikum

Öffentlichen Ärger ziehen Designer auch immer wieder mit rassistischen bzw. antisemitischen Statements auf sich. In der Herbst/Winter-Show 1995 von Comme des Garçon liefen Models im gestreiften Pyjama und Jacken mit Nummernprints über den Laufsteg – am Jahrestag der Auschwitz-Befreiung. Ein Zufall? Sehr eindeutig hingegen John Galliano in einer Bar 2011: Ein Video zeigt, wie der Designer "I love Hitler" sagt und andere Gäste antisemitisch angreift. Die Konsequenz: Dior kündigt ihn als Chefdesigner. Seinen Job behalten konnte Karl Lagerfeld, obwohl er 2017 in einer französischen TV-Show Geflüchtete als "die schlimmsten Feinde der Juden" bezeichnete. H&M sah sich erst dieses Jahr mit Rassismusvorwürfen konfrontiert. Das Bekleidungsunternehmen hatte für seinen Katalog ein dunkelhäutiges Kind in einem Pullover mit der Aufschrift "Coolest monkey in the jungle" abgelichtet.

Mode setzt politische Statements aber auch bewusst ein. Bei Dior kreierte Maria Grazia Chiuri letztes Jahr ein T-Shirt mit der Aufschrift "We should all be feminists" und die französischen Labels Vetements und Comme de Garçon kooperierten 2016 für eine LGBTQ-Sweater-Kollektion in Regenbogenfarben und mit Doppelaxt (beides Symbole aus dieser Community) bzw. Herzen auf der Brust. Ob die legendären Benetton-Plakatkampagnen mit sich küssenden Geistlichen, magersüchtigen Models, zum Tode Verurteilten oder einem sterbenden AIDS-Kranken ernst gemeinte politische Botschaft oder doch eher Effekthascherei waren, sei dahin gestellt. Im Gedächtnis geblieben sind sie auf jeden Fall auch wenn Benetton für manche Sujets stark kritisiert worden ist.

Textile Ironie

Kritik oder gar Shitstorms in der Modewelt werden auch bewusst aufgegriffen. Der französische Designer Naco Paris ließ sich etwa von der Aussage Karl Lagerfelds, er kenne Heidi Klum nicht, inspirieren: Er entwarf eine einfache Jutetasche mit der Aufschrift "Karl Who". Der Modezar selbst trug sie.

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Wer ist diese Frau? Karl Lagerfelds angebliche Unwissenheit inspirierte Naco Paris zur Jutetasche "Karl Who".
Foto: Willy Sanjuan / Invision / AP

Ebenfalls selbstironisch zeigte sich 2017 Dolce&Gabbana. Das italienische Modehaus sah sich mit heftigen Protesten konfrontiert, als es die amerikanischen Präsidentengattin Melania Trump einkleidete. Als Reaktion auf die Kritik wurde ein T-Shirt lanciert mit dem Slogan #boycott Dolce&Gabbana, darunter prangte ein großes rotes Herz. Es war sofort ausverkauft. Aktuell thematisiert Diesel den Umgang mit Hasskommentaren in der Kollektion "Ha(u)te Couture". Aufschriften wie "Diesel is dead" oder "Diesel is not cool anymore" sollen Kritikern den Wind aus den Segeln nehmen. Mit ins Boot geholt wurden polarisierende Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Promis wie Nicki Minaj oder Gucci Mane kennen sich schließlich bestens aus mit Shitstorm und Skandalen. (Michael Steingruber, 21.9.2018)

Ein Ausschnitt aus der aktuellen Diesel-Kampagne "Ha(u)te Couture".

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